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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Rödder
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Willi Stoph den offenkundig ahnungslosen Generalsekretär mit dem entscheidenden Antrag. In der nun folgenden Aussprache musste Honecker erleben, wie alle bislang so treuen Genossen von ihm abrückten. Besonders angekreidet wurde ihm die Bemerkung über die Flüchtlinge, denen man «keine Träne nachweinen» solle. Es tue ihm «weh», bekundete Krenz, aber «Erich hat das alles nicht verstanden.» Und Erich Mielke meinte ganz resigniert: «Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen. Erich, Schluss: Ich akzeptiere das.» Am Ende sprach Honecker, ein letztes Mal als Generalsekretär, über die Republik und den Sozialismus, den Gegner, die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, den Anstieg des Nationaleinkommens und die «Kapazitäten für eine Million Telefone». Mit einem behielt er Recht, als ernämlich im Hinblick auf seine Ablösung sagte: «Nichts wird beruhigt.»
    Einen Tag nach dem Politbüro tagte das Zentralkomitee der SED, das Egon Krenz zum neuen Generalsekretär wählte. Eine «Wende» versprach er und «Dialog» – freilich unter zwei Bedingungen: erstens «den Sozialismus in der DDR weiter auszubauen […] und keine unserer gemeinsamen Errungenschaften preiszugeben» und zweitens die DDR als «souveränes Land» zu erhalten. Krenz hoffte, mit einigen inhaltlichen Korrekturen und personellen Veränderungen die Initiative wiedergewinnen zu können. Die Entwicklung lief allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Honeckers Sturz beschleunigte den Erosionsprozess der SED-Herrschaft nur noch mehr.
    Die Gewissheit begann zu schwinden. Hans Modrow, der Erste Parteisekretär des Bezirks Dresden, kritisierte eine Überschrift «Mit der Wahrheit gehen wir» aus dem
Neuen Deutschland,
weil die SED doch «einen Dialog um die Wahrheit führen» wolle. Fassungslos rief ihm Verteidigungsminister Heinz Keßler zu: «Trotzdem haben wir die Wahrheit!» Unter Beifall antwortete Modrow: «Ja. Aber Heinz, ich persönlich gehe nicht davon aus, dass wir zu jeder Frage die Wahrheit haben.» Die Gewissheit allerdings, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein, war die ideologische Lebensgrundlage des gesamten SED-Staates. Das hatte auch Gorbatschow nicht erkannt, aber erfasst hatte er eines: Wenn man «den Glauben verliere, dann werde man alles verlieren.»
    Stattdessen versuchte Krenz, die Herrschaft der SED durch «Dialog» zu retten. Schon der Begriff stammte aus dem Arsenal der Kirchen und der Oppositionsbewegung. Damit hatte sich die SED auf das Terrain der Bürgerbewegung begeben – und befand sich rettungslos in der Defensive. Die Bürgerbewegung entwand dem Regime die Macht zur Vorgabe der Sprachformeln, Denkmuster und Verhaltensweisen. Einmal in Bewegung gekommen, verschob sich der Rahmen des allgemein akzeptierten Redens und Denkens binnen kürzester Zeit; zwischen Partei und Bevölkerung tat sich eine immer größere Kluft auf. Die einfachste Kommunikation wollte mit einem Mal nicht mehr gelingen.Eine Vorlage für Egon Krenz nach einer Veranstaltung im Berliner Lustgarten «nach Beobachtungen und Gesprächen mit Parteimitgliedern und Parteilosen, die auf dem Platz waren», hielt fest: «Wer mit Hochrufen begrüßt wird, gerät sofort in Verdacht, ein ‹Alter› zu sein. Reformfreudige Kräfte begrüßen niemand mit einem Hochruf. […] Dank in dieser Art ([…] Ich danke Euch …) empfinden die Leute zum Teil als Anmaßung. […] – Wo die Leute den leisesten Verdacht haben […], da will einer taktieren, reagieren sie sauer.» So erwies sich die Vorstellung, «von der Partei aus ein aufgefächertes Dialogangebot zu unterbreiten» und «Nachdenklichkeit und Realismus an den Tag zu legen, um unsere Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen und darauf aufbauend mit Substanz in die Offensive zu kommen», als völlig illusorisch – da half es auch nichts, bei öffentlichen Kundgebungen auf «genormte Transparente und Winkelemente» zu verzichten.
    Wie eine Lawine verbreitete sich die Protestbewegung nach dem 9. und dem 18. Oktober über das ganze Land: in Friedensgebeten, Massendemonstrationen und Diskussionsforen, auf denen sich die Funktionäre der SED als weithin hilflos erwiesen. Die Bürgerbewegung brachte in diesen Tagen zunächst keine konkreten Ziele vor. Sie konstituierte sich vielmehr als kollektiver Akteur über die begrenzten Aktionen einzelner Personengruppen an einzelnen Orten hinaus – als ein Akteur, der etwas Verbotenes tat und erst einmal die eigene Angst überwinden musste. Und wie

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