Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Maueröffnung rückgängig zu machen. Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnadse wurden wohl, so sagte jedenfalls Schewardnadse später, «sehr aktiv zurGewaltanwendung gedrängt», und Gorbatschow selbst befürchtete eine gewaltsame Eskalation. Letztlich aber entschied sich der Kreml, die Maueröffnung gutzuheißen und die DDR auch weiterhin sich selbst zu überlassen.
Mit den Ereignissen des 9. November hatte die SED endgültig die Kontrolle über den Gang der Dinge verloren. Reisefreiheit und SED-Herrschaft waren bis zum Ende des Systems nicht vereinbar. In den Entscheidungsgremien brach offene Konfusion aus. Der dritte Tag der ZK-Sitzung begann mit schonungslosen Ausführungen von Gerhard Schürer zur ökonomischen Lage. Konsterniert und empört debattierten die Genossen über die Verantwortung für die desaströse Entwicklung; spontan traten vier Mitglieder des erst zwei Tage zuvor neu gewählten Politbüros zurück. Schuldzuweisungen wechselten sich ab mit planlosem Aktivismus, Selbstbezichtigungen und dramatischen Szenen, wie etwa des Generalintendanten der Leipziger Theater: «In mir ist alles zerbrochen. Mein Leben ist zerstört. Ich habe geglaubt an die Partei […]. Ich habe an die Genossen geglaubt!» Um 12.30 Uhr verkündete Egon Krenz, die Lage im Land habe sich «äußerst zugespitzt. Es macht sich Panik und Chaos breit.» Vierzig Minuten später wurde die Sitzung unter tumultartigen Umständen vorzeitig abgebrochen.
Auf den Weg gebracht hatte sie noch ein «Aktionsprogramm der SED», das «radikale Reformen» des politischen Systems und des Rechtsstaats, der Informations-, der Medienpolitik und der Wirtschaftspolitik, eine «große geistige Erneuerung» und unabhängige Gewerkschaften sowie noch einiges mehr ankündigte. Doch auch mit noch so großen Schritten stolperte die SED der stürmischen Entwicklung der Gesellschaft nur noch hinterher. Alle Anpassungsversuche, alle Anstrengungen, um Initiative und Handlungssouveränität zurückzugewinnen, blieben vergeblich.
Während am 13. November eine neue Regierung unter Führung von Hans Modrow gebildet wurde, auf dem die letzten reformkommunistischen Hoffnungen ruhten, und sich acht Tage später Vertreter aller politischen Gruppen und Parteien in Ost-Berlinam Runden Tisch zusammensetzten, zerfiel die Partei auf allen Ebenen. Bis zum 20. November waren alle 15 Ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen und 13 ihrer Stellvertreter abgesetzt worden, 142 Erste Sekretäre der Kreisleitungen waren zurückgetreten und drei hatten Selbstmord verübt. Zur letzten Katastrophe für das Regime wurde Ende November ein Pressebericht über Privilegien in der Waldsiedlung Wandlitz dreißig Kilometer nördlich von Berlin, wo die Mitglieder des Politbüros abgeschottet von der Außenwelt wohnten. Die Meldungen über die Privilegien von Wandlitz riefen in der SED außerhalb der Regierungssiedlung höchste Empörung und tiefste Enttäuschung hervor.
Und es waren nicht mehr nur einzelne Genossen, denen man individuelle Verfehlungen vorwerfen konnte. Die gesamte Partei, die als Quelle der Legitimation immer über und hinter den austauschbaren Personen und Funktionären gestanden hatte, geriet in den Strudel. Am 1. Dezember wurde die führende Rolle der Partei aus der DDR-Verfassung gestrichen. Damit war dem Machtmonopol der SED – wie etwa der Weisungsbefugnis des Zentralkomitees der Partei gegenüber der Regierung – auch ein verfassungsrechtliches Ende gesetzt. Zwei Tage später beschloss das ZK die Selbstauflösung der zentralen Führungsgremien, Mitglieder der alten Führungsriege wurden ausgeschlossen, einige verhaftet. Am 6. Dezember trat Egon Krenz als Staatsratsvorsitzender und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates zurück, und unmittelbar darauf war auch seine Zeit als Generalsekretär nach nur sieben Wochen abgelaufen. Die einstmals streng durchorganisierte Staatspartei endete im Durcheinander. «Jetzt stehe ich auch vor einer Frage, auf die ich keine Antwort habe», beschloss Egon Krenz die letzte Sitzung des Zentralkomitees und seine politische Karriere zugleich. «Das ZK hat sich aufgelöst. Die Beschlüsse sind gefasst. Jetzt müsste der Arbeitsausschuss tätig sein. Und wir können die Tagung beenden. Oder wie ist das?»
Auf einem Sonderparteitag am 8./9. Dezember 1989 benannte sich die SED in SED-PDS («Partei des Demokratischen Sozialismus») um. An die Spitze eines neugeschaffenen Parteivorstandeswurde Gregor Gysi gewählt,
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