Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Stimmungsumschlags bemerkbar», wie es in einer westdeutschen Aufzeichnung hieß. Die heraufziehende Verbitterung schlug sich in Vorwürfen an die Masse der Bevölkerung nieder, wie sie schon unmittelbar nach der Öffnung der Grenzen angeklungen waren, dass sie nämlich rein materiellen Interessenfolge und sich nach Westen locken lasse. Bärbel Bohley sprach von «Glasperlen für die Eingeborenen», Stefan Heym von «quiekenden Frauen» angesichts von «westlichem Tinnef», während die Moral erst nach Woolworth komme. In einer polarisierten Debatte innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft geißelte Monika Maron wiederum die «Arroganz des Satten, der sich vor den Tischmanieren eines Ausgehungerten ekelt», und Martin Walser nahm die Massenbewegung von Westen her in Schutz: «Die Hunderttausende haben für ein besseres Leben demonstriert. Ihnen das Motiv zu einem Konsum-Motiv zusammenzustreichen ist, wenn ein überversorgter Westler oder ein ehedem systemverträglicher, mit allen Reisefreiheiten privilegierter Ostler das tut, fast gruselkomisch.»
Nun trat hervor, was zwischen dem 9. Oktober und 9. November durch die rasende Entwicklung überdeckt worden war: Der Hauptstrom der Oppositionellen und die Masse der demonstrierenden Bevölkerung lagen nicht auf einer Wellenlänge. Rolf Schneider, der 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossene Autor zwischen beiden deutschen Staaten, schrieb am Tag nach dem Aufruf «Für unser Land» im
Spiegel,
die Oppositionellen seien «höhere Angestellte, Künstler, freischwebende Intellektuelle. Die Arbeiterschaft ist bei ihnen unterrepräsentiert. Seit dem 10. November strömt diese über die Westgrenzen. Ihr volonté générale ist gesamtdeutsch.» Nach den ebenso kurzen wie heftigen Flitterwochen im September und Oktober 1989 gingen Opposition und Massenbewegung wegen unüberbrückbarer Differenzen in der nationalen Frage wieder auseinander. Wie aufgeheizt, ja polarisiert die Stimmung binnen weniger Wochen geworden war, zeigte sich auf der Leipziger Montagsdemonstration am 4. Dezember, als sich Vereinigungsbefürworter und Vereinigungsgegner gegenseitig als «Rote» bzw. «Nazis» beschimpften.
Diese neue Konfliktlinie veränderte die gesamte Konstellation in der DDR: Nicht mehr Bürgerbewegung und SED-Regime standen einander gegenüber, sondern Vereinigungsbefürworter und Vereinigungsgegner, zugespitzt: Massenbewegung und Oppositionsbewegung,wobei es im Einzelnen natürlich mancherlei Verschiebungen und Verbindungen gab. Während die Massenbewegung einstweilen führungs- und orientierungslos zurückblieb, rückte die Oppositionsbewegung näher an die verbleibenden reformbereiten Kräfte der SED heran. Angedeutet hatte sich dies bereits am 4. November, manifest wurde es am «Runden Tisch».
Am 22. November stimmte die SED zu, einen Zentralen Runden Tisch in der DDR und zudem Runde Tische in den Städten und Bezirken einzurichten. Dass die SED bereit war, über die Abgabe und eine Neuverteilung der Macht zu verhandeln, schien die Möglichkeit zum geregelten und gewaltfreien demokratischen Neuanfang in begrenzter Kooperation mit der SED zu eröffnen. Am 7. Dezember setzten sich in Ost-Berlin unter kirchlicher Moderation erstmals die Vertreter der alten Kräfte und der neuen Gruppierungen am Zentralen Runden Tisch zusammen: je drei Vertreter der SED sowie der vier vormals der Staatspartei untergeordneten Blockparteien, des Weiteren 15 Vertreter von sieben Oppositionsgruppen und je eine Delegation des Unabhängigen Frauenverbandes und des staatlichen Gewerkschaftsbundes.
Damit hatte sich die Oppositionsbewegung institutionalisiert – und war nicht mehr Trägerin der vorwärtstreibenden Protestbewegung. Im Gegenteil: Jetzt wurde sie von der Sorge vor deren unkontrollierter Eskalation umgetrieben, und sie zielte nun darauf, die Entwicklung einzudämmen. Im Folgenden sah sie sich den Versuchen der zur SED-PDS umbenannten SED ausgesetzt, sie für eine Rettung der noch bestehenden Strukturen der DDR zu vereinnahmen, während sie selbst keine konkreten und umsetzbaren Konzepte für die gewünschte demokratische Neugestaltung zu entwickeln vermochte. Nun machte sich deutlich bemerkbar, dass gerade das Neue Forum als prominenteste Oppositionsgruppe nicht als politisch handlungsfähige Partei, sondern als offene Plattform für den Dialog konzipiert war, die sich schon deshalb schwer tat, einheitliche Positionen zu artikulieren. Vielmehr traten interne
Weitere Kostenlose Bücher