Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln.»
Diese Abwehrhaltung gegen eine deutsche Einheit stellte in ihrer Zuspitzung nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung innerhalb der Oppositionsgruppen dar, denen es ohnehin an etablierten Foren der Meinungsbildung mangelte. Sie wurde aber öffentlich als deren Haltung wahrgenommen. Und so tat sich eine zunehmende Spaltung zwischen der Oppositionsbewegung undder rasch wachsenden Zahl der Befürworter einer Vereinigung mit der Bundesrepublik auf.
Der Fall der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze hatte die Tore nach Westen geöffnet – und damit stand die deutsche Frage im Raum. Ungehindert konnten die Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik reisen, und sie kehrten mit Eindrücken eines Landes im Überfluss in ihre maroden Städte und Dörfer zurück. In Leipzig war am 13. November, auf der ersten Montagsdemonstration nach dem Fall der Mauer, erstmals der Sprechchor «Deutschland einig Vaterland» zu hören – jener Vers aus dem Text der Nationalhymne der DDR, dessentwegen sie seit den siebziger Jahren nur noch instrumental gespielt, aber nicht mehr gesungen worden war und der sich nun, am Ende, auch noch gegen die DDR selbst wendete. Neu waren an diesem Abend auch Deutschlandfahnen und Transparente mit der Aufschrift «Wiedervereinigung». Damit war innerhalb der DDR ein Tabu gebrochen und das Thema auf dem Tisch.
Eine Woche später erhielt ein Werkzeugmacher langen Beifall, als er bekundete, er habe nach vierzig Jahren keine Lust mehr auf neue Varianten des Sozialismus: «Keine Experimente mehr! Wir sind keine Versuchskaninchen.» Vor der Tür gebe es ein funktionierendes Gegenmodell: freie Marktwirtschaft und deutsche Wiedervereinigung seien der einzige Ausweg. Und am 27. November – einen Tag nach dem Aufruf «Für unser Land» und einen Tag vor Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm – hatte sich «Deutschland einig Vaterland» als eine zentrale Parole etabliert, die nun, nach denselben Mechanismen wie einige Wochen zuvor die Bedeutung des Neuen Forums, über die Massenmedien in ihrer Wirkung noch erheblich verstärkt wurde. Die Massenbewegung wandte sich vom Projekt der Reform der inneren Verhältnisse, von der Vorstellung einer demokratisierten und sozialistischen eigenständigen DDR ab und peilte stattdessen die unmittelbare Vereinigung mit der Bundesrepublik an.
Wie lässt sich dieser plötzliche Umschwung, wie lässt sich diese nationale Wende erklären? Verlässliche demoskopische Erhebungen aus dem Spätjahr 1989 liegen ebenso wenig vorwie Daten über das Ausmaß, in dem der nationale Einheitsgedanke in der DDR-Bevölkerung lebendig geblieben war, wobei festzuhalten ist, dass er einer großen Zahl von Ostdeutschen umstandslos präsent war. Wenn dabei oftmals – mit kritischnegativem Unterton – behauptet wird, bei der Mehrheit der Bevölkerung hätten materielle Interessen über gesellschaftlich-politische Freiheit obsiegt, dann ist diese Alternative insofern falsch formuliert, als beides keinen Widerspruch bedeutet. Vielmehr ist gerade die Verbindung von Freiheit und Wohlstand tief in der bürgerlichen Moderne verwurzelt – wenngleich im Verlauf der deutschen Revolution durchaus eine Akzentverschiebung in dieser Verbindung zu beobachten ist: Dominierte in der ersten Phase, im Herbst 1989, das Element der Freiheit von staatssozialistischer Diktatur, so rückte in der zweiten Phase im Zeichen der Wiedervereinigung die Erwartung schnellen Wohlstands in den Vordergrund.
«Es kam mir vor», so resümierte Jens Reich, einer der prominenten Vertreter der Oppositionsbewegung
post festum,
«als hätten wir zum Volk gesagt: ‹Los, nehmt uns als Rammbock und drückt das Tor ein – es ist morsch! › […] Und sie nahmen uns als Ramme, holten aus, drückten das Tor ein, warfen uns danach achtlos zur Seite und stürmten hinein.» In historischer Perspektive war der Bruch innerhalb der Bürgerbewegung nichts Außergewöhnliches: Gerade in Zeiten grundstürzenden Umbruchs finden ansonsten unverbundene Akteure zusammen, treiben das Geschehen voran und gehen bald danach wieder auseinander, wie überhaupt die Träger der Entwicklung binnen kurzer Zeit wechseln.
Diese historische Sicht war freilich nicht die Perspektive der Akteure im deutschen Herbst 1989; vielmehr machten sich bei den Leitfiguren der Oppositionsbewegung «Anzeichen eines depressiven
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