Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
NATO-Vollmitgliedschaft eines vereinten Deutschland nichts anderes als eine westliche Maximalposition gesetzt, die so in keinem Wiedervereinigungsszenario der unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnte vorgekommen war.
Dass dies gelingen würde, war in Camp David noch nicht abzusehen. Doch äußerte Kohl eine Erwartung, die am Ende so exakt eintraf, dass er es selbst nicht glaubte: «Der Bundeskanzler fragt, ob es nicht denkbar wäre, dass die Sowjetunion so spiele, dass sie zunächst einmal Gespräche im Rahmen Zwei plus Vier führen und dann ein letztes Wort mit dem Präsidenten der USA im Juni bei dem Gipfel haben wolle. Er hege diese Vermutung. Wie er Gorbatschow einschätze und seine Lage sehe,sei die Frage nicht einfach für ihn. […] Aus seiner Sicht ist jetzt viel Prestige im Spiel. Die Sowjetunion habe aus der Sicht Gorbatschows in Wahrheit nur einen Partner, nämlich die USA. […] Gorbatschow werde im Gespräch mit Präsident Bush diese Konzession machen.»
2. Die deutsch-polnische Grenze
Die Grenzfrage löste die größten internationalen Irritationen im gesamten Wiedervereinigungsprozess aus. Die Kontroverse ließ erahnen, wie fragil das gegenseitige Vertrauen war und welche Konfliktpotentiale der Entwicklung innewohnten – und blieb doch letztendlich ein erratischer Block innerhalb des Gesamtgeschehens.
Die polnische Regierung unter dem ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Mazowiecki akzeptierte das Recht der beiden deutschen Staaten auf eine Wiedervereinigung. Zugleich aber forderte sie eine völkerrechtlich verbindliche Regelung der Oder-Neiße-Grenze noch vor der Vereinigung, denn tief saßen die polnischen Ängste um die Westgrenze des Landes. Diese war, nachdem die Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945 die deutschen Ostgebiete (mit Ausnahme des der Sowjetunion zugeschlagenen nördlichen Ostpreußen) «der Verwaltung des polnischen Staates unterstellt» hatte, einem späteren, aber nie geschlossenen Friedensvertrag überlassen worden. Völkerrechtlich gesehen war die Abtrennung der ehemaligen deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße keineswegs besiegelt.
Historisch-politisch und in internationaler Perspektive sah dies freilich ganz anders aus: Eine deutsche Politik mit dem Ziel einer «großen Wiedervereinigung» und der Revision der deutsch-polnischen Grenze lag 1989 außerhalb jeder Diskussion. So zielte auch Helmut Kohls Aussage, niemand in Deutschland wolle die Vereinigung mit «der Verschiebung bestehender Grenzen» verbinden, ebenso auf das polnische Bedürfnis nach sicheren Grenzen wie die Formulierung aus der Erklärung des Deutschen Bundestags vom 8. November 1989: «Das Rad der Geschichte wird nicht zurückgedreht.»
Bestätigt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag stand Kohl freilich juristisch auf dem Standpunkt, dass die deutsch-polnische Grenze erst durch ein vereinigtes und vollständig souveränes Deutschland anerkannt werden könne. Gegen eine offizielle Festlegung in der Grenzfrage sträubte sich Kohl freilich nicht nur aus rechtlichen Gründen, sondern mehr noch aus innenpolitischen Rücksichten auf die für die Union wichtige Klientel der Vertriebenen, deren offizielle Vertreter die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ablehnten. Dass der, so der Präsident des Bundes der Vertriebenen, «überstürzte, gedanken- und geschichtslose Verzicht» auf die deutschen Ostgebiete «zu gefährlichen Schärfen und ebenso gefährlichen Mehrheiten in der deutschen Innenpolitik» führen könne, nahm Kohl als innenpolitische Drohung durchaus ernst. Um das Einverständnis der Vertriebenen zu gewinnen, wollte er ihnen die Anerkennung der Grenze als unvermeidliche deutsche Konzession für den Gewinn der Einheit vorlegen und diesen unumgänglichen Schritt daher erst möglichst spät tun. Dies wiederum führte zu äußeren und inneren Irritationen und Konflikten, deren Ausmaß Kohl offenkundig unterschätzte.
International nämlich fand die polnische Position breite Unterstützung, besonders vehement in Paris, doch drängten auch die anderen Regierungen auf eine möglichst rasche endgültige Regelung der Grenzfrage. Zunehmend trat vor allem die französische Regierung als Sachwalter der polnischen Interessen hervor. Nicht dass in Paris eine revisionistische deutsche Politik erwartet worden wäre – doch Kohls völkerrechtliche Begründung wurde als Vorwand und sein grenzpolitisches Lavieren als Wahltaktik aufgefasst. Allgemein
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