Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
der DDR wirkte demgegenüber die Uneinigkeit innerhalb der westdeutschen SPD, zumal zwischen ihrem
elder statesman
und Einheitsbefürworter Willy Brandt auf der einen Seite und dem zum Kanzlerkandidaten gekürten Oskar Lafontaine aufder anderen mit seiner unübersehbaren Distanz gegenüber einer Wiedervereinigung und der Ost-SPD.
Ohne Unterstützung einer westdeutschen Partei schloss sich das Neue Forum mit der «Initiative Frieden und Menschenrechte» und mit Demokratie Jetzt zum «Bündnis 90» aus dem Herzland der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung zusammen. Basisdemokratisch-alternativ angelegt, intellektuell in der Argumentation und stark auf Berlin bezogen, wurde bald deutlich, dass die treibende Bewegung des Herbstes 1989 keine Massenanhängerschaft in der Bevölkerung besaß. Ohne westlichen Partner zog auch die Nachfolgerin der DDR-Staatspartei in den Wahlkampf. Die PDS blieb eine streng sozialistische Partei in einer ganz eigenen Mischung aus Kontinuität – hinsichtlich der Mitgliederstruktur, der Mentalität der Kader und des Geistes der SED, auch organisatorischer Fragen sowie des Parteivermögens – und programmatischer Neuorientierung, die vor allem von der Parteispitze um Gregor Gysi ausging. Die PDS stellte sich auf den westlich geprägten Wahlkampf ein und machte das Beste aus ihrer Außenseiterposition, in der sich die ehemals alles beherrschende Staatspartei durchaus inszenieren konnte. Sie stilisierte sich als Verteidigerin von Identitäten und Errungenschaften der DDR und kultivierte Ängste und Ressentiments gegenüber dem Westen.
Am Wahltag kam wieder einmal alles anders als erwartet: 48,0 Prozent der abgegebenen Stimmen und 192 von 400 Mandaten gewann die Allianz für Deutschland, 40,8 Prozent allein die Ost-CDU. Die SPD hingegen erreichte mit 21,9 Prozent und 88 Mandaten nicht einmal die Hälfte des Erhofften. Über ihre Erwartungen hinaus ging hingegen das Ergebnis der PDS, die mit 16,4 Prozent immerhin jede sechste Stimme für sich gewann und somit drittstärkste Kraft wurde – vor dem Bund Freier Demokraten (5,3 Prozent) und Bündnis 90 mit 2,9 Prozent. Die Allianz für Deutschland und der Bund Freier Demokraten, das Spiegelbild der Bonner Koalition, verfügten in der ersten frei gewählten Volkskammer somit über eine solide absolute Mehrheit und gemeinsam mit der SPD sogar über eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit.
Mit der Volkskammerwahl hatte die Bevölkerung der DDR ihren Willen manifestiert. Innerhalb der DDR setzte sie die Vorzeichen uneingeschränkt auf deutsche Einheit, und der Auftrag an die Wahlsieger lautete: Abwicklung des eigenen Staates und rascher Beitritt zur Bundesrepublik. Innerdeutsch war unverkennbar, dass die 48 Prozent in erster Linie, wie der
Spiegel
titelte, «Kohls Triumph» darstellten. Der Umschlag der ostdeutschen Revolution in die geregelten Bahnen einer Vereinigung mit der Bundesrepublik war damit endgültig vollzogen. Dabei übertrug die Mehrheit der Ostdeutschen, die im Herbst das SED-Regime zum Einsturz gebracht hatte, die Verantwortung auf die Regierung Kohl – und verband damit hohe Erwartungen von schnellem Wohlstand an den Staat und an den Westen, die aus Bonn zugleich kräftig geschürt worden waren. Langlebige Dissonanzen und Missverständnisse im vereinten Deutschland waren in diesen entscheidenden Wochen der Wiedervereinigung angelegt.
Auf internationaler Ebene schließlich dokumentierten die Volkskammerwahlen in aller Eindeutigkeit die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zugunsten einer raschen Wiedervereinigung. Das allein war noch nicht ausschlaggebend, aber doch eine Aussage von erheblichem Gewicht, die die Position der Bundesregierung nachdrücklich bekräftigte.
IV. Wiedervereinigung und Weltpolitik
Im November 1989 war eine baldige Wiedervereinigung Deutschlands allseits für höchst unwahrscheinlich gehalten, von der Sowjetunion strikt abgelehnt und auch in Westeuropa überwiegend nicht gewünscht worden. Gut zwei Monate später wurde eine Wiedervereinigung, auch ihre schnelle Herbeiführung, allseits anerkannt. Was in der Rückschau wie ein Selbstläufer erscheinen mag, war es zeitgenössisch gesehen freilich keineswegs – im Gegenteil: diese Entwicklung zählt zu den vielen unerwarteten Wendungen der deutschen Revolution.
Möglich wurde sie durch eine spezifische Konstellation: Erstens zeichnete sich mehr und mehr ab, dass die Ostdeutschen ihr Selbstbestimmungsrecht zugunsten einer deutschen
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