Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Verantwortlichen in Ost-Berlin einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft zwar ebenfalls skeptisch gegenüberstanden, aber keine politische Durchsetzungskraft besaßen.
Unablässig lehnte der Kreml unterdessen eine NATO-Mitgliedschaft des gesamten vereinten Deutschland ab – und dann kam der amerikanisch-sowjetische Gipfel in Washington, von dem Kohl in Camp David gesprochen hatte. Dort geschah, öffentlich zunächst wenig bemerkt, eine diplomatische Sensation, eine weitere jener unerwarteten Wendungen im Wiedervereinigungsprozess und ein abermaliger Beweis der Sprunghaftigkeit Gorbatschows. Direkt am Verhandlungstisch nämlich vollzog er, offenbar ohne sich vorher mit seiner Delegation abgesprochen zu haben, am 31. Mai eine Kehrtwende.
Er stimmte George Bush zu, der es im Delegationsgespräch mit der Formulierung versucht hatte, «alle Staaten [hätten] das Recht, ihre Bündniszugehörigkeit frei zu wählen. Also sollte auch Deutschland selbst entscheiden dürfen, welchem Bündnis es sich anschließen wolle. Dies sei doch richtig?» Als Gorbatschow nickte, schreckten die sowjetischen Vertreter auf und wurden unruhig; die ebenso ungläubigen amerikanischen Beamten wiederum drängten ihren Präsidenten, den Kremlherrn zu einer Wiederholung seiner unerhörten Zustimmung zu bewegen – mit Erfolg: Gorbatschow sprach sich dafür aus, «dem vereinten Deutschland selbst die Entscheidung zu überlassen, zu welchem Bündnis es gehören will».
An jenem 31. Mai wurde in Washington der Durchbruch in der Bündnisfrage erzielt. Unumkehrbar war dies freilich noch nicht: Gorbatschows Sprunghaftigkeit konnte sich auch wieder in die andere Richtung bewegen, und es gehörte durchaus zur sowjetischen Verhandlungspraxis, einen einmal erzielten Konsens bzw. bereits gegebene Zugeständnisse nachträglich wieder zurückzunehmen. Und so schnürte der Westen ein «Anreizpaket» (Robert Zoellick), in das die Bundesregierung die materiellen Inhalte packte.
Dabei kamen ihr die akuten Versorgungsschwierigkeiten und Finanzengpässe der Sowjetunion zugute. Offenbar «am Rande des Staatsbankrotts» (Kwizinski) hatte Moskau Anfang Mai in Bonn wegen eines Finanzkredits angefragt. Kohl ließ diese Möglichkeit nicht ungenutzt und entsandte die Vorstandssprecher der Deutschen und der Dresdner Bank zu einer vertraulichenSondermission nach Moskau. Gorbatschow erklärte ihnen, die Sowjetunion befinde sich gerade in einer schwierigen Übergangsphase zwischen Kommando- und Marktwirtschaft, die es zu verkürzen gelte, und der Vorsitzende des Ministerrates sprach davon, im Innern würden zunehmend Forderungen laut, zum alten System der Zeit vor 1985 zurückzukehren. Die Botschaft an die Bundesregierung war ebenso eindeutig wie die Antwort aus Bonn. Aus politischen Gründen und gegen die Bedenken hinsichtlich der Bonität der Sowjetunion ließ Kohl das Angebot eines von der Bundesregierung verbürgten kurzfristigen Finanzkredits in Höhe von fünf Milliarden D-Mark erarbeiten, das er Gorbatschow am 22. Mai unterbreitete – verbunden mit der Erwartung, es werde «eine konstruktive Lösung der anstehenden Fragen ermöglichen».
Den sicherheitspolitischen Teil des Anreizpaketes schnürte die US-Regierung. Alle Vorschläge wurden zu einem Neun-Punkte-Programm gebündelt, das Außenminister Baker Mitte Mai 1990 in Moskau vorlegte. Neben Schritten zur Abrüstung und einer Weiterentwicklung der KSZE enthielt es vor allem die Idee einer politischen und militärischen Veränderung der NATO. Ganz auf Gorbatschow hin formuliert, hatte Bush bereits am 4. Mai öffentlich von einer Revision der NATO-Strategie gesprochen.
Unterdessen verhärtete sich die sowjetische Diplomatie und zeigte sich im Juni in ihrer ganzen Janusköpfigkeit – insbesondere bei der Zwei-plus-Vier-Konferenz am 22. Juni im Ost-Berliner Schloss Schönhausen. Dort schlug Schewardnadse eine Vertagung der Verhandlungen über die Bündnisfrage und über die Aufhebung der Vier-Mächte-Rechte auf die Zeit nach der Herstellung der staatlichen Einheit vor. Klar war zugleich, dass dieser Auftritt auf die sowjetische Innenpolitik zielte, wo mit dem XXVIII. Parteitag der KPdSU eine existentielle Kraftprobe für Gorbatschow und die Perestroika bevorstand. Wenn er und Gorbatschow von der politischen Bühne abträten, so raunte der sowjetische Außenminister, wäre klar, wer an ihre Stelle treten und welche Art von Staat dies bedeuten würde.
So blieb den westlichen Regierungen nur, den
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