Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Mitterrand – stets vage Sphinx – auf seinem Landsitz empfing und zunächst, wie sich Kohl später erinnert, ungewöhnlich befangen wirkte. Mitterrands oberstes deutschlandpolitisches Interesse lag schon vor der deutschen Revolution in einer vertieften europäischen Integration, um «den deutschen Riesen zu bändigen», wie es Margaret Thatcher formulierte. Das zentrale Instrument dafür war die einheitliche europäische Währung, mit der die Dominanz der D-Mark gebrochen werden sollte. Und dies sollte umso mehr gelten, wenn eine deutsche Einheit schon nicht zu verhindern war. Damit war Mitterrand der einzige Kritiker der Wiedervereinigung mit einer konkreten und konstruktiven eigenen Zielperspektive, und dies war auch der wesentliche Unterschied gegenüber der britischen Premierministerin. «Letztlich stellt er die Bedingungen»,so sein Generalsekretär Hubert Védrine, «während sie dagegen ist.»
Margaret Thatcher berief noch Ende März 1990 eine Deutschland-Konferenz mit Historikern und Publizisten auf dem Landsitz der britischen Premierminister in Chequers ein. Der Rat der Experten freilich lautete, keine Sorge vor einer Wiedervereinigung zu haben und «nett zu den Deutschen» zu sein. Wie das Seminar zeigte, war Thatcher in dieser Frage in Großbritannien isoliert. Auch Außenminister Douglas Hurd hatte auf eine konstruktive Gestaltung statt einer bloßen Blockade der deutschen Einigung gedrängt und sich zunehmend von der Premierministerin distanziert. Als die Entscheidung für eine deutsche Einheit gefallen war, zog sie sich aus der vordersten Kampflinie zurück und überließ dem Foreign Office das Feld für die konkrete Ausgestaltung des internationalen Prozesses.
Am 13. Februar 1990 wurde, am Rande einer Konferenz in Ottawa, der «Zwei-plus-Vier-Prozess» zur Diskussion der äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung auf der Ebene der Außenminister der beiden deutschen Staaten, der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs eingesetzt. Sowohl Bonn als auch Washington reklamierten im Nachhinein die Idee zu diesem Verfahren für sich. Dabei lag die Idee eines Sechsergremiums geradezu in der Luft, um den mäandernden Prozess zu kanalisieren, ohne ihn durch eine Friedenskonferenz mit weiteren europäischen Mächten, gar allen 1945 mit Deutschland im Krieg befindlichen Staaten ausufern zu lassen. Zugleich stand das andere Extrem einer «Vier-plus-Null-Version», das wohl nicht nur der französische Außenminister bevorzugt hätte, nicht ernsthaft zur Debatte.
Der Zwei-plus-Vier-Prozess schuf ein geordnetes Verfahren zur Herstellung der deutschen Einheit auf internationaler Ebene. Er bezog die Skeptiker und Opponenten in den Prozess ein, insbesondere die Sowjetunion, die bislang nur ungeordnet hatte reagieren können. Das Zwei-plus-Vier-Forum tagte auf Ministerebene schließlich viermal – zum Gremium der wesentlichen Entscheidungen im Prozess der Wiedervereinigung wurde es freilichnicht. Diese fielen vielmehr auf der Ebene zwei plus eins, im Dreieck Washington - Moskau - Bonn, während die aus der Oppositionsbewegung nach der Volkskammerwahl ins Ministeramt gekommenen Verantwortlichen in Ost-Berlin keine Chance hatten, ein Bein auf das diplomatische Parkett zu bringen.
Entscheidend war der enge westdeutsch-amerikanische Schulterschluss, der endgültig besiegelt wurde, als Helmut Kohl Ende Februar 1990 nach Camp David reiste. Die amerikanische Regierung war beunruhigt, weil Kohl sich bis dahin nicht eindeutig zur NATO-Mitgliedschaft eines gesamten vereinten Deutschlands geäußert hatte, es gar heftigen Streit im Bundeskabinett über diese Frage gegeben hatte, die für Washington von essentieller Bedeutung war. Daher strebten Bush und Baker, wie es der Sicherheitsberater des Präsidenten formulierte, einen «historischen Handel» mit Kohl an: die volle Aufrechterhaltung der deutschen NATO-Verpflichtungen gegen die amerikanische Abschirmung des Vereinigungsprozesses nach außen.
Tatsächlich verabredeten Bonn und Washington in Camp David, unter beinahe vollständiger Harmonisierung der beiderseitigen Positionen, eine für den weiteren Fortgang wegweisende Aufgabenteilung. Die Bundesregierung sorgte für die innerdeutsche Administration der Wiedervereinigung und für die materielle Ausgestaltung gegenüber der Sowjetunion, während die US-Regierung die Federführung auf internationaler und sicherheitspolitischer Ebene übernahm. Dabei hatte sie mit der Zielmarke der
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