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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Rödder
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Wiedervereinigung ausüben wollten. Daraus folgte freilich kein Automatismus, vielmehr konnte das Selbstbestimmungsrecht seine Grenze finden, wenn andere Staaten massive eigene Sicherheitsinteressen dagegen geltend machten. Dass dies nicht geschah, lag zweitens an der Konfusion in der sowjetischen Führung und drittens an der mangelnden Abstimmung zwischen den potentiellen Veto-Spielern, während Washington, viertens, die Politik der Bonner Regierung unterstützte, die fünftens an ihrer Vereinigungspolitik festhielt und dabei das internationale Gewicht der Bundesrepublik zur Geltung brachte. Hinzu kam schließlich die Entwicklung in der DDR: Drohender innerer Kollaps und Massenflucht schufen politischen Handlungsbedarf und gaben der Bundesregierung zugleich schlagende Argumente für ihr schnelles Handeln an die Hand.
    Das Tempo des Prozesses wurde immer höher, zusätzlich angetrieben durch die wachsende Sorge vor der Entwicklung in der Sowjetunion, konkret: vor einem Machtverlust Gorbatschows, der das Fenster der Gelegenheit wieder zugeschlagen hätte. Kohl verglich die Situation mit der eines Bauern, «dervorsorglich, weil möglicherweise ein Gewitter droht, die Heuernte einbringen möchte». Hatte er noch zum Zeitpunkt des Zehn-Punkte-Programms einen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren veranschlagt, so kristallisierte sich spätestens im Mai 1990 heraus, dass die staatliche Einheit noch im selben Jahr hergestellt werden könnte.
    Dazu war eine Fülle von Entscheidungen zu treffen, mit denen – 45 Jahre nach 1945 – die Nachkriegszeit beschlossen wurde und die zugleich die künftige Ordnung Europas bestimmten. Auf internationaler Ebene stellten sich drei grundlegende Probleme: die Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschland als der «Kern der Deutschlandfrage» (Valentin Falin), einschließlich der Frage, ob Gorbatschow die deutsche Einheit verkauft (oder gar verschenkt) habe; des Weiteren eine Frage, um die bitterer internationaler Streit entbrannte, obgleich sie in der Sache gar nicht strittig war: die deutsch-polnische Grenzfrage; und schließlich die europäische Einbindung der deutschen Einheit mitsamt der Frage, ob Bonn die D-Mark für die Wiedervereinigung geopfert habe.
1. Zwei plus Vier und zwei plus eins: Der internationale Prozess
    In den Monaten des weltpolitischen Umbruchs waren die DDR und das zerfallende Imperium für den Kreml von nachrangiger Bedeutung gegenüber den Schwierigkeiten innerhalb der Sowjetunion; zudem erwies sich Gorbatschows Zielvorstellung einer reformsozialistischen DDR als inkompatibel mit der allgemeinen Entwicklung. Die rigide Ablehnung einer deutschen Wiedervereinigung, wie sie zunächst vertreten wurde, stellte daher keine dauerhaft tragfähige Position dar. Von den verfügbaren Optionen wurde letztlich diejenige realisiert, die den sowjetischen Interessen am wenigsten entsprach: das Geschehenlassen und die reaktive Anpassung an die Entwicklung. Aus sowjetischer Perspektive war die deutsche Wiedervereinigung ein Spiel, wie Julij Kwizinski formulierte, «in dem wir von Tag zu Tag einen Trumpf nach dem anderen verloren».
    Offenkundig ohne vorherige konzeptionelle Diskussion beschloss ein informeller Kreis in Gorbatschows Büro am 26. Januar 1990, keine acht Wochen nach der scharfen Replik auf Kohls Zehn Punkte, die deutsche Einheit nunmehr als gegeben hinzunehmen. «Hauptsache ist», so formulierte Gorbatschow das wichtigste Ziel, «dass niemand sich darauf Hoffnung machen darf, dass das wiedervereinigte Deutschland der NATO beitreten wird.» Einen Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland hielt der Kremlchef durchaus für möglich, aber nur, «wenn die Amerikaner ihre Truppen ebenfalls abziehen. Sie werden es jedoch noch lange nicht tun.» Dabei setzte er statt auf strikte Ablehnung wie noch im Dezember nunmehr darauf, «Zeit zu gewinnen» und den Prozess zu verzögern.
    Einheit ja, NATO-Mitgliedschaft nein – als Gorbatschow die neue sowjetische Position am 10. Februar in Moskau der westdeutschen Delegation kommunizierte, war der erste Durchbruch erzielt und zugleich die zentrale Streitfrage benannt, in der Bonn wiederum die westeuropäischen Regierungen auf seiner Seite wusste.
    Die unerwartet schweren Ressentiments im westlichen Nachbarland hatten in Bonn zunächst «Rätselraten über die Absichten des französischen Präsidenten» (Teltschik) in Gang gesetzt. Am 4. Januar 1990 reiste Kohl daraufhin nach Latche in der Gascogne, wo ihn

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