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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Rödder
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einen Arbeitsplatz besaßen, und die Rentner, deren Renten, nach sprunghaften Erhöhungen in den ersten Jahren nach 1990, oftmals über den Westrenten lagen, zumal bei Rentnerehepaaren.
    Zugleich wandelte sich die Beschäftigungsstruktur grundlegend, vor allem durch den Abbau der ebenso umfangreichen wie unproduktiven personellen Überbelegungen der zentral gelenkten DDR-Wirtschaft. Eine besonders radikale nachholendeModernisierung erlebte die Landwirtschaft, deren Personalbestand zwischen 1989 und 1996 um fast vier Fünftel, von 976.000 auf 210.000 zurückging. Einschneidend erfasste der Abbau personeller Überkapazitäten auch das produzierende Gewerbe, dessen Beschäftigtenzahl zwischen 1989 und 1996 um mehr als die Hälfte von 4,39 auf 2,14 Millionen zurückging, während in Handel und Verkehr ein gutes Viertel, von 1,5 auf 1,1 Millionen, abgebaut wurde. Obwohl auch der Öffentliche Dienst um über ein Drittel von 2,2 auf 1,4 Millionen Beschäftigte zurückgefahren wurde, stellte er dennoch eine der «Ruhezonen» in den Stürmen der Transformation dar. Verwaltungsangehörige, Lehrer und Polizisten wurden in den Dienst der neuen Länder übernommen, soweit sie nicht durch Mitarbeit bei der Staatssicherheit belastet waren, die in der Regel, wenn auch nicht immer, zum Ausschluss von öffentlichen Beschäftigungsverhältnissen führte. Eine Zunahme der Beschäftigtenzahlen war indes allein im Bereich der Dienstleistungsunternehmen zu verzeichnen, wo sie sich mit einem Anstieg von 619.000 auf 1,36 Millionen bis 1996 mehr als verdoppelten, freilich den Personalabbau von über 4,1 Millionen Stellen in den anderen Sektoren nur zu einem knappen Sechstel wettmachen konnten.
    Dieser Strukturwandel beließ bis 1993 nur 29 Prozent der Beschäftigten an dem Arbeitsplatz, an dem sie auch im November 1989 tätig gewesen waren. Deutlich über zwei Drittel hingegen erlebten eine berufliche Veränderung – was vor dem Hintergrund der Traditionen der DDR insofern ein besonderes Problem darstellte, als Stellenwechsel allgemein sehr selten gewesen waren. Der Betrieb war für die Werktätigen viel mehr als nur ein Ort der Arbeit und der Produktionsabläufe, sondern zugleich Ort der sozialen Gemeinschaft: der gesellschaftlich-politischen Arbeit, der Lebensgestaltung und der Organisation von Kinderbetreuung, Urlaub und Kultur. Da die Betriebe als Institutionen von der Transformation in eine Marktwirtschaft besonders betroffen waren, schlug die Wirtschaftsunion auch im Bereich der Sozialbeziehungen und der alltäglichen Lebenspraxis unmittelbar auf den Alltag der Menschen durch.
    Das Hauptproblem, in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht, war dabei das «exzessive Maß an Arbeitslosigkeit» (Hans-Werner Sinn), für die Betroffenen ohnehin, aber darüber hinaus auch für die von ihr Bedrohten. Die Arbeitslosen waren, trotz der materiellen Grundsicherung durch die sozialen Sicherungssysteme, vom Aufholprozess der ostdeutschen Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen. Zu der existentiellen materiellen Bedeutung der Arbeitslosigkeit im gesamten Umstellungsprozess kam eine besondere sozialpsychologische Dimension hinzu: Die ostdeutschen Beschäftigten waren an den lebenslang sicheren Arbeitsplatz gewöhnt. Nun machten sie nicht nur die ungekannte Krisenerfahrung, den Arbeitsplatz zu verlieren, sondern obendrein den gesamten lebensweltlichen Zusammenhang des Betriebs.
    Mit der Wiedervereinigung differenzierte sich die stark nivellierte Sozialstruktur der DDR aus, und die soziale Ungleichheit innerhalb der neuen Länder nahm zu, freilich auf einem insgesamt höheren Niveau als zuvor und in einem geringeren Maß als in den alten Ländern. Sozialstrukturelle Daten sind indessen das eine – die gefühlte, als solche wahrgenommene Realität ist das andere, und oft wirkmächtigere.
    Das Institut für Sozialdatenanalyse machte am Vorabend der Wiedervereinigung eine «spezifische sozio-kulturelle Identität» der DDR-Gesellschaft aus. Die ostdeutsche Grundstimmung im Frühjahr 1990 wurde als ambivalent erfasst und von vielen Seiten als zunehmend verunsichert und negativ beschrieben. Die Untersuchung kam zu dem Schluss, «dass souveräne Lebensgestaltung vielfach neu erlernt werden muss und Nachwirkungen systembedingter indifferenter Lebenshaltungen erst allmählich abgebaut werden können». Die Mehrheit der Gesellschaft sei «mental auf den eingeleiteten Übergang zur Marktwirtschaft nicht genügend vorbereitet».
    Nach 1990 wurde

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