Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
ausgegangen waren, dass dem Schock nicht alsbald die Therapie folgte und dass sich auf den befreiten Märkten Ostdeutschlands kein selbsttragender Aufschwung entfaltete. Vielmehr entpuppten sich vermeintliche Übergangsphänomene als Dauerprobleme, die staatliche Intervention in einem ganz und gar unerwarteten Ausmaß erforderlich machten, ohne selbst damit das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahlen und einer sich im Westen zunehmend verschlechternden Stimmung gegenüber der Einheit vermied es die Regierung jedoch bis zum Dezember, die zwar noch nicht vollständig absehbaren, aber unweigerlich auf das Land und seine Bürger zukommenden Belastungen offen darzulegen. Damit verpasste sie den Zeitpunkt, die Einheit in der Bevölkerung offensiv als nationale Gemeinschaftsverpflichtung zu verankern und an Solidarität und Verzichtbereitschaft zu appellieren. Zugleich begann sie jedoch politisch umzusteuern und eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, statt weiterhin allein auf die Kräfte des freien Marktes zu vertrauen.
Der Deindustrialisierungsschock schlug naturgemäß ins Zentrum der Arbeit der Treuhandanstalt unter dem Primat der Privatisierungdurch. Ihr Aktionsfeld wandelte sich bald von einem Verkäufer- zu einem Käufermarkt, auf dem der Verkauf von Unternehmen oft nur noch zu einem sehr niedrigen Preis und obendrein unter der Verpflichtung möglich war, dass die Treuhand Altschulden und ökologische Altlasten übernahm; hohe Forderungen hinsichtlich Investitionen oder Arbeitsplätzen konnte sie unter diesen Bedingungen hingegen nicht stellen.
In der Konsequenz bemühte sich die Treuhand einerseits um beschleunigte Privatisierungen, um den Staat aus der Verantwortung für die Unternehmen der kollabierenden Wirtschaft zu bringen. Andererseits verschoben sich in ausgewählten Fällen die Prioritäten: Anfang 1993 beschloss die Bundesregierung, «industrielle Kerne» zu sichern und zu erneuern. Gefördert wurden unverzichtbare Arbeitgeber in der Region, von denen auch Zulieferer abhingen, so etwa die Ostseewerften, EKO-Stahl in Brandenburg, SKET Schwermaschinen- und Anlagenbau in Magdeburg oder Maschinenbaufirmen in Sachsen. Auf diese Weise gelang die Privatisierung schwieriger Fälle, allerdings unter immensem finanziellem Aufwand: Für Teile der Buna, der Sächsischen Olefinwerke und der Leuna-Polyolefine wurden 10 Milliarden D-Mark staatlicher Beihilfen für 5600 Mitarbeiter, mithin fast 1,8 Millionen D-Mark pro Arbeitsplatz investiert.
Als die Treuhandanstalt am 31. Dezember 1994 ihr operatives Geschäft abschloss, war dies nicht zuletzt ein symbolischer Akt, da ihre Aufgabe nicht vollständig erfüllt war, die Anstalt vielmehr in die «Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben» überführt wurde. Doch verschwand die im Osten ungeliebte Treuhand, die für die Deindustrialisierung verantwortlich gemacht wurde, aus dem öffentlichen Bewusstsein.
In der quantitativen Bilanz hatte die Treuhand 1990/91 zunächst 25.000 Handelsgeschäfte, Gaststätten und Hotels verkauft. Bis Ende 1994 hatte sie dann von den 12.162 Unternehmen, die vorwiegend aus den ehemaligen Kombinaten entstanden waren, 3718 (30,6 Prozent) stillgelegt, 6546 (53,8 Prozent) privatisiert, 1588 (13,1 Prozent) an Alteigentümer zurückgegebenund 310 Unternehmen (2,6 Prozent) in kommunale Trägerschaft überführt. In hohem Maße gingen die privatisierten Betriebe in westdeutschen Besitz über, wo sie in bestehende Unternehmen und deren Rentabilitätskalkulationen eingepasst wurden, die ihrerseits in den neunziger Jahren unter den wachsenden Druck der Globalisierung und in den Sog des nach Deutschland vordringenden, an kurzfristigen Gewinninteressen der Anteilseigner orientierten Unternehmensprinzips des
shareholder value
gerieten.
Mit den ostdeutschen Standorten wurde dabei sehr unterschiedlich verfahren. In hohem Maße wurden sie zu «verlängerten Werkbänken», zu Filialbetrieben ohne eigene Abteilungen für Forschung und Entwicklung. 1999 hatten nur acht der 550 größten deutschen Unternehmen ihren Hauptsitz in den neuen Ländern, in denen sich somit Züge einer Dependenzwirtschaft ausbildeten, während sich vor allem kleinere Betriebe in ostdeutschen Händen befanden.
Die Treuhandanstalt hatte ihren Privatisierungsauftrag binnen gut vier Jahren erfüllt und einen umfassenden Strukturwandel herbeigeführt, allerdings zu weit höheren Kosten als 1990 erwartet. Statt aus den
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