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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Rödder
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Privatisierungen die erhofften 600 Milliarden D-Mark zu erlösen, schloss die Treuhandanstalt mit einem Defizit von 230 Milliarden D-Mark, das von den Steuerzahlern zu tragen war. Dass sich die Differenz zwischen erwartetem Erlös und tatsächlichem Abschluss der Treuhandanstalt auf sage und schreibe 830 Milliarden D-Mark belief, zeugt von der Dimension sowohl der Herausforderung durch die deutsche Einheit als auch der Fehleinschätzung jener Situation, für die freilich jeder historische Vergleichsmaßstab fehlte.
    Insofern lag das Problem der Treuhandanstalt weniger in ihrem Handeln – dass konkrete Fehlentscheidungen getroffen wurden, war unvermeidlich und, so Dieter Grosser, auch eher die Ausnahme. Das grundsätzliche Problem lag vielmehr in ihrem Auftrag samt seinen Voraussetzungen: «die verwaltende Zerstörung der wirtschaftlichen Illusionen» von 1990 (Wolfgang Seibel).
    Nach dem Deindustrialisierungsschock 1990/91 währte die erste Phase des Zusammenbruchs bis Ende 1994. Zugleich aber setzte bereits im Sommer 1991 eine zweite Phase der Erneuerung ein: Bis 1995 ging der Strukturwandel mit Wachstumsraten von jährlich ca. 8 Prozent in einem Maße voran, wie es für einen erfolgreichen Aufholprozess erforderlich war. 1995 aber erlitt die Bauwirtschaft, durch den steuerbegünstigten Bauboom bis dahin Lokomotive der ostdeutschen Entwicklung, einen schweren Rückschlag. Allgemein gingen die Investitionen zurück, vor allem im industriellen Sektor, und fielen im Folgenden weit unter westdeutsches Niveau; zwischen 1996 und 2004 stieg das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner nur noch von 62 auf 64 Prozent des Westniveaus. Mitte der neunziger Jahre kam der ostdeutsche Aufholprozess ins Stocken und ging in eine dritte Phase der Abflachung bzw. der Seitwärtsbewegung über.
    Allen Indikatoren zufolge war es nicht gelungen, nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft selbsttragende neue Strukturen und eine hinreichend leistungsfähige Industrie aufzubauen, zumal die Märkte über Jahrzehnte hinweg unter hochdifferenzierten westlichen Unternehmen aufgeteilt worden waren und die neuen Länder nicht, wie andere osteuropäische Länder, als Niedriglohngebiet konkurrieren konnten. Die Branchen, die in der DDR einen besonders hohen Anteil am Bruttoinlandsprodukt gehalten hatten – Textil, Chemie, Maschinen- und Schiffbau – besaßen wenig Zukunftsperspektiven innerhalb eines gesamteuropäischen Strukturwandels hin zur tertiarisierten Industriegesellschaft des digitalen Zeitalters. Der dafür zentrale, in der DDR unterentwickelte Dienstleistungssektor entwickelte sich demgegenüber weniger als erwartet. Die neuen Länder wurden in hohem Maße zu strukturschwachen Regionen.
    Als ökonomisches, sozialstrukturelles und sozialpsychologisch-kulturelles Hauptproblem erwies sich die dauerhafte Massenarbeitslosigkeit. Binnen zweier Jahre nach der Währungs- und Wirtschaftsunion ging die Zahl der Beschäftigten in der ehemaligen DDR um mehr als ein Drittel zurück. Die Zahl der Arbeitslosen stieg in Ostdeutschland (einschließlich Berlins)von offiziell null über eine Million im Jahr 1991 auf mehr als 1,5 Millionen im Jahr 1997, und 2003 überschritt die Arbeitslosenquote gar die 20-Prozent-Marke; sie lag dauerhaft etwa doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern bewegte sich etwa in der Größenordnung ebenjener unproduktiven Scheinbeschäftigung, mit der sich die DDR wirtschaftlich ruiniert hatte. Insofern war die Arbeitslosigkeit in erster Linie eine Folgewirkung der sozialistischen Planwirtschaft. Jedoch gelang es nicht, den Beschäftigungsabbau der Jahre 1990 bis 1992 durch einen selbsttragenden Aufschwung wieder auszugleichen.
    Alles in allem blieb die ökonomische Entwicklung weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück – und verlief zugleich nicht so desaströs, wie es in der öffentlichen Diskussion oftmals den Anschein hatte. Ein Kapitalstock wurde aufgebaut und der gesamtwirtschaftliche Strukturwandel kam voran, wenn auch zu hohen Kosten und unter erheblicher Ausweitung der Staatstätigkeit. Die Entwicklung verlief nach Regionen und Branchen sehr unterschiedlich. Einerseits blieben Brachen, und im ländlichen Raum entstanden wegzugsbedingte Wüstungen; andererseits fanden einzelne Wachstumszentren durchaus Anschluss an den Westen.
    Mit einer Arbeitsproduktivität von 70 bis 80 Prozent des westdeutschen Niveaus lag die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in den neuen

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