Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
angesichts offenkundiger Gegensätze zum Westen die Frage diskutiert, ob sich eine eigene Ost-Identität herausgebildet habe und worauf diese zurückzuführen sei. Auf der einen Seite wurden sozialisierte vormundschaftliche Dispositionennamhaft gemacht. Auf der anderen Seite wurden in erster Linie situative Bedingungen, insbesondere enttäuschende Erfahrungen der Ostdeutschen im wiedervereinigten Deutschland benannt. Letztlich ist wohl eine Verbindung von beidem anzunehmen: ein aus der DDR überkommenes und verinnerlichtes «Gefühl der Sicherheit, das in Kombination mit der Mangelwirtschaft den Leistungswillen beeinträchtigte» (Hans Joachim Meyer), samt der, wie es ein ostdeutscher Arbeitspsychologe formulierte, «erlernten Hilflosigkeit» vieler DDR-Bürger auf der einen Seite – und zugleich schwierige Rahmenbedingungen für Eigeninitiative und Selbständigkeit auf der anderen.
In der Umstellungs- und Orientierungskrise, die mit der Wiedervereinigung über die Ostdeutschen hereinbrach, verband sich der fundamentale Verlust der Sicherheit mit unrealistisch hohen Erwartungen schnellen Wohlstands an den Staat und an den Westen, der diese Erwartungen freilich seinerseits schürte. Zudem wurde die sprunghafte Verbesserung der materiellen Bedingungen sehr viel weniger am Status quo von 1989 in der DDR oder auch an der Entwicklung in den anderen Transformationsgesellschaften Osteuropas gemessen als vielmehr im Vergleich zum bundesdeutschen Westen und im Hinblick auf den verbleibenden Rückstand. Eine empirisch messbare Kultur der Unzufriedenheit und ein Gefühl der Benachteiligung machten sich breit. Doch es ging nicht nur um die materielle Dimension: Empfunden wurde vor allem eine Entwertung der ostdeutschen Biographien und der Ostdeutschen als sozialer Gruppe durch die westliche Dominanz, die sich insbesondere nach dem 3. Oktober 1990 manifestierte, und somit eine Verletzung der eigenen Würde.
Die sogenannte «Ostalgie» hatte verschiedene Gründe: Sie war trotzige, auch realitätsverweigernde Reaktion auf die unerwarteten Schwierigkeiten des Einigungsprozesses, Selbstbehauptung und Abgrenzung gegen den Westen als Kompensation für gefühlte Unterprivilegierung und somit Teil einer ostdeutschen «Abgrenzungsidentität», sie war in vielem auch eine ganz normale lebensweltliche Nostalgie. Zugleich reflektierte sie eine im wörtlichen Sinne utopische Sehnsucht nachSicherheit und vermeintlicher Geborgenheit im rauen Wind der freien Marktwirtschaft und in den Stürmen der Globalisierung – und spiegelte somit die Schwierigkeiten mit der 1989 erkämpften Freiheit wider.
4. Die Kosten der Einheit
Als die Bonner Regierung der DDR am 7. Februar 1990 das Angebot einer Wirtschafts- und Währungsunion machte, ging nicht nur der Bundesfinanzminister davon aus, die Kosten «angesichts der erreichten starken wirtschaftlichen Dynamik […] weitgehend aus unseren Sozialproduktzuwächsen finanzieren» zu können, zumal sich die deutsche Einheit «als zusätzliches Wachstumsprogramm erweisen» werde. Kurzfristige «Sonderopfer unserer Arbeitnehmer und Unternehmer» wurden hingegen mit Rücksicht auf die mangelnde «politische Akzeptanz derartiger Realeinkommenstransfers» nicht vorgesehen.
Im Laufe des Einigungsprozesses aber taten sich immer größere Löcher im Haushalt sowie in der Wirtschaftskraft und somit bei den zu erwartenden Einnahmen der DDR auf. Selbst die führenden wirtschaftswissenschaftlichen Institute rechneten jedoch im ungünstigsten Falle mit einem Gesamtvolumen von nicht mehr als 750 Milliarden D-Mark und somit etwa 50 Milliarden jährlich an erforderlichen Unterstützungsleistungen für die DDR bzw. die neuen Länder – was als wirtschaftlich vertretbar angesehen wurde. All diesen Kalkulationen lag freilich die Erwartung zugrunde, privates Kapital werde in großen Strömen in die neuen Länder fließen und die Treuhand werde entsprechende Privatisierungserlöse schaffen. Diese Fehleinschätzungen des nachmals eingetretenen Verlaufs lagen also nicht allein auf Seiten der Politik, sondern entsprachen einer allgemeinen Erwartungshaltung im Hinblick auf die ökonomischen Aussichten der deutschen Einheit.
Die ursprüngliche Bonner Hoffnung ging dahin, mit dem «Sonderfonds Deutsche Einheit», der im Umfeld des ersten Staatsvertrags beschlossen wurde, die Kosten für die Anschubfinanzierung geleistet zu haben; die Länder gingen jedenfalls,was ihren Part betraf, strikt davon aus. Der Fonds stellte
Weitere Kostenlose Bücher