Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Ländern im Jahr 2007 weit über allen anderen ehemaligen sozialistischen Planwirtschaften, allein schon zweieinhalbmal so hoch wie im von der Ausgangslage her ähnlichen Tschechien. «Dies zeigt vor allem eines: Der Aufholprozess ist sehr schwierig und langwierig. Alle Vorstellungen von schneller Konvergenz zwischen dem postsozialistischen Mittel- und Osteuropa und dem Westen sind illusorisch» (Karl-Heinz Paqué). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche Aufbauleistung in den neuen Ländern erbracht wurde. Verkehrswege, Kommunikationsnetze und die Infrastruktur der neuen Länder wurden auf den neuesten Stand gebracht, Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und überhaupt die Institutionen modernisiert. «Blühende Landschaften» entstanden von Rostock bis Dresden vorallem in Form städtebaulicher Kostbarkeiten und sanierter Bauwerke ersten Ranges.
Und dass die desaströsen Umweltbedingungen dramatisch verbessert wurden, kam der allgemeinen Lebensqualität ebenso zugute wie ein allgemeiner Wohlstandsschub. Selbst für die Verlierer der Einheit traf Helmut Kohls Prognose in materieller Hinsicht weitgehend zu: es werde in Ostdeutschland «niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser».
3. Gesellschaft im Umbruch
Während sich für die westdeutsche Gesellschaft durch die deutsche Einheit nicht viel ändern sollte und zunächst auch nicht sichtlich änderte, bevor eine Stagnation der Wohlstandsentwicklung auf insgesamt hohem Niveau fühlbar wurde, blieb in den neuen Ländern kaum etwas, wie es gewesen war.
Die Gesellschaft der DDR hatte, wie es eine Studie des Instituts für Sozialdatenanalyse Ende Mai 1990 formulierte, «insgesamt in einer ‹Zwischenmoderne›» gelebt. Mit einem Schlag wurde sie nun aus dem abgeschotteten Stillstand einer übersubventionierten planwirtschaftlichen Fürsorgediktatur, die auf einer retardierten schwerindustriellen Stufe der modernen industriellen Entwicklung stehengeblieben war, in die Turbulenzen eines marktwirtschaftlich-pluralistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems mit all seinen Freiheiten und Risiken und der Veränderungsdynamik des mikroelektronischen Zeitalters gestoßen. Zugleich wurde sie von der heraufziehenden und durch den Zusammenbruch des Ostblocks befeuerten Globalisierung erfasst, die ein nochmals deutlich höheres Maß an Veränderungsgeschwindigkeit und Flexibilisierungsbedarf mit sich brachte. Ostdeutschland war zu einem doppelten Modernisierungssprung von einem besonders niedrigen Ausgangspunkt aus gezwungen.
Dieser Wandlungsprozess erfasste praktisch alle Lebensbereiche und wirbelte vertraute Strukturen und Erfahrungen der gesamten Lebenswelt durcheinander: von der Notwendigkeit der Kaufentscheidung zwischen verschiedenen Konsumproduktenund den Anforderungen der Sozialversicherung, des Steuersystems und der bundesdeutschen Rechtsverhältnisse über die Erschütterung von Karriereperspektiven und Lebensplanungen bis hin zur Umwertung (fast) aller Werte, einschließlich der Entwertung bisheriger Qualifikationen. Die Wiedervereinigung forderte von den Menschen in der DDR radikale Umorientierungen und immense Anpassungsleistungen. Freiheit im westlichen Sinne war erst zu lernen – von einem «Freiheitsschock» sprach György Dalos im Hinblick auf die osteuropäischen Transformationsgesellschaften. Und zugleich war sie mit dem Verlust von gewohnten Sicherheiten verbunden, allen voran der Sicherheit des Arbeitsplatzes, der in der Wertehierarchie der Ostdeutschen höher rangierte als in der Sozialkultur des Westens.
Unterdessen verbesserte sich die alltägliche Versorgung ab dem 1. Juli 1990 schlagartig. Binnen kurzer Zeit entstand eine Konsumwelt nach dem Muster westlicher Wohlstandsgesellschaften, ohne dass gleiche Bedingungen zwischen Ost und West geherrscht hätten – vor allem im Hinblick auf Vermögen und Immobilienbesitz blieben die Ostdeutschen dauerhaft zurück. Nichtsdestoweniger stieg der materielle Lebensstandard in der gesamten Bevölkerung, allerdings in unterschiedlichem Maße, sprunghaft und auch deutlich über die Produktivität hinaus an. Vor allem bewirkten die erheblich ansteigenden durchschnittlichen Gehälter eine «nachholende Einkommensexplosion» – wie auch immer man es rechnet: Das Nettoeinkommen eines Einpersonen-Arbeitnehmerhaushaltes erhöhte sich zwischen 1989 und 1994 um rund 70 Prozent, das eines Dreipersonen-Arbeitnehmerhaushaltes um 55 Prozent. Gewinner der Einheit waren die Erwerbstätigen, die
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