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Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
Autoren: Leo Trotzki
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der Kerenski die Sanktion zur Offensive erteilte, versammelte sich am 3. Juni im Gebäude des Kadettenkorps zu Petrograd. Insgesamt gab es auf dem Kongreß 820 Delegierte mit beschließender und 268 mit beratender Stimme. Sie vertraten 305 Ortssowjets, 53 Bezirks- und Distriktssowjets, ferner Frontorganisationen, Armeeinstitutionen des Hinterlandes und einige Bauernorganisationen. Beschließende Stimme hatten Sowjets, die mindestens
    25.000 Menschen vertraten. Sowjets, die 10.000-25.000 vereinigten, hatten beratende Stimme. Auf Grund dieser Normen, die übrigens wohl kaum sehr streng gewahrt wurden, darf man folgern, daß hinter dem Kongreß über zwanzig Millionen Menschen standen. Von 777 Delegierten, die über ihre Parteizugehörigkeit Auskunft gaben, waren 285 Sozialrevolutionäre, 248 Menschewiki, l05 Bolschewiki; weiter folgten kleinere Gruppen. Der linke Flügel, das heißt Bol-schewiki zusammen mit den ihnen eng angeschlossenen Internationalisten, bildete weniger als ein Fünftel der Delegierten. Der Kongreß bestand in seiner Mehrheit aus Personen, die sich im März als Sozialisten eingeschrieben hatten und im Juni bereits der Revolution müde waren. Petrograd mußte ihnen als eine Stadt von Besessenen erscheinen.
    Der Kongreß begann mit der Billigung der Ausweisung Grimms, des kläglichen Schweizer Sozialisten, der versucht hatte, durch Kulissenverhandlungen mit der Hohenzollerndiplomatie die Russische Revolution und die deutsche Sozialdemokratie zu retten. Die Forderung des linken Flügels, unverzüglich die Frage der sich vorbereitenden Offensive zur Diskussion zu stellen, wurde mit erdrückender Mehrheit abgelehnt. Die Bolschewiki sahen wie ein kleines Häuflein aus. Aber am gleichen Tage und vielleicht zur gleichen Stunde nahm die Konferenz der Petrograder Betriebskomitees, ebenfalls mit erdrückender Mehrheit, eine Resolution an, wonach nur die Sowjetmacht das Land retten könne.
    So kurzsichtig die Versöhnler auch waren, es konnte ihnen nicht verborgen bleiben, was sich täglich ringsherum abspielte. Der Bolschewikenhasser Liber brandmarkte, offenbar unter dem Einfluß der Provinzler, in der Sitzung vom 4. Juni die untauglichen Regierungskommissare, denen man im Lande die Macht nicht zugestehen wollte. "Eine Reihe von Funktionen der Regierungsorgane ging infolgedessen in die Hände der Sowjets über, auch dann, wenn diese es nicht verlangten." Die Versöhnler führten Beschwerde gegen sich selbst.
    Einer der Delegierten, ein Pädagoge, erzählte auf dem Kongreß, daß auf dem Gebiete der Volksbildung in den vier Revolutionsmonaten nicht die geringsten Änderungen eingetreten seien. Alle alten Lehrer, Inspektoren, Direktoren, Kreisschulräte, nicht selten frühere Mitglieder der Schwarzhundertorganisationen, alle alten Schulpläne, reaktionären Lehrbücher, sogar die alten Ministergehilfen wären unbehelligt auf ihren Plätzen verblieben. Nur die Zarenporträts wären auf den Boden geschafft worden, könnten aber jeden Augenblick auf ihren früheren Platz zurückgebracht werden. Der Kongreß konnte sich nicht entschließen, die Hand gegen Reichsduma und Staatsrat zu erheben. Seine Schüchternheit vor der Reaktion verhüllte der menschewistische Redner Bogdanow damit, daß Duma und Staatsrat "ohnehin tote, nicht existierende Institutionen sind". Mit dem ihm eigenen polemischen Witz antwortete darauf Martow: "Bogdanow schlägt vor, die Duma als nicht existierend zu betrachten, aber ihre Existenz nicht anzutasten."
    Trotz der so kompakten Regierungsmehrheit verlief der Kongreß in einer Atmosphäre von Unruhe und Unsicherheit. Das patriotische Stroh war feucht geworden und flackerte nur träge auf. Es war klar, daß die Massen unzufrieden und die Bolschewiki im Lande, vor allem in der Hauptstadt, unermeßlich stärker waren als auf dem Kongreß. Auf seinen Ursprung zurückgeführt, drehte sich der Streit zwischen Bolschewiki und Versöhnlern unverändert um die Frage: mit wem hat die Demokratie zu gehen, mit den Imperialisten oder mit den Arbeitern? Der Schatten der Entente schwebte über dem Kongreß. Die Entscheidung über die Offensive war bereits vorausbestimmt, der Demokratie blieb nur übrig, sich zu beugen.
    "In diesem kritischen Moment", belehrte Zeretelli, "darf nicht eine einzige öffentliche Kraft, solange sie von der Volkssache auszunutzen ist, von der Waage hinuntergeworfen werden." Dies war die Begründung der Koalition mit der Bourgeoisie. Da Proletariat, Armee und Bauernschaft mit jedem
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