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Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
Autoren: Leo Trotzki
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Arbeiterzentren wie Jekaterinburg, Perm, Tula, Nishnij-Nowgorod, Sormowo, Kolomna, Jusowka hatten sich die Bolschewiki erst Ende Mai von den Menschewiki getrennt. In Odessa, Nikolajew, Jelissawetgrad, Poltawa und an anderen Punkten der Ukraine besaßen die Bolschewiki auch Mitte Juni noch keine selbständigen Organisationen. In Baku, Slatoust, Beschezk, Kostroma trennten sich die Bolschewiki erst Ende Juni endgültig von den Menschewiki. Diese Tatsachen müssen erstaunlich erscheinen, berücksichtigt man, daß den Bolschewiki bevorstand, schon nach vier Monaten die Macht zu ergreifen. Wie weit war die Partei während des Krieges hinter dem Molekularprozeß in den Massen zurückgeblieben, und wie weit die Märzleitung Kamenjew-Stalin hinter den großen historischen Aufgaben!
    Die revolutionärste Partei, die die menschliche Geschichte bis jetzt überhaupt gekannt hat, wurde dennoch von den Revolutionsereignissen überrascht. Sie baute sich im Feuer um und ordnete ihre Reihen unter dem Ansturm der Ereignisse. Die Massen erwiesen sich im Augenblick der Wendung "an die hundert Mal" linker als die linkste Partei.
    Das Steigen des Einflusses der Bolschewiki, das mit der Gewalt eines naturnotwendigen Prozesses vor sich ging, zeigt bei näherer Betrachtung seine Widersprüche und Zickzacks, seine Ebben und Fluten. Die Massen sind nicht homogen, und überdies lernen sie nicht anders mit dem Feuer der Revolution umzugehen, als daß sie sich die Hände daran verbrennen und zurückprallen. Die Bolschewiki vermochten nur den Lehrprozeß der Massen zu beschleunigen. Sie klärten geduldig auf. Im übrigen hat die Geschichte diesmal ihre Geduld nicht lange mißbraucht.
    Während die Bolschewiki unaufhaltsam Werkstätten, Fabriken und Regimenter eroberten, ergaben die Wahlen zur demokratischen Duma ein großes und scheinbar wachsendes Übergewicht der Versöhnler. Das war einer der schärfsten und rätselhaftesten Widersprüche der Revolution. Allerdings war die Duma des rein proletarischen Wyborger Bezirks auf ihre bolschewistische Mehrheit stolz. Doch das war eine Ausnahme. Bei den Stadtwahlen in Moskau konnten die Sozialrevolutionäre im Juni noch über 60% der Stimmen auf sich vereinigen. Diese Zahl verblüffte sie selbst es konnte ihnen nicht verborgen bleiben, daß ihr Einfluß im raschen Sinken war. Für das Verständnis des Verhältnisses zwischen der realen Entwicklung der Revolution und ihrem Abbild im Spiegel der Demokratie sind die Moskauer Wahlen von höchstem Interesse. Die fortgeschrittenen Schichten der Arbeiter und Soldaten schüttelten bereits eilig die versöhnlerischen Illusionen von sich, während die breitesten Massen des städtischen Kleinvolkes erst begannen, sich in Bewegung zu setzen. Für diese zerstäubte Masse waren die demokratischen Wahlen vielleicht die erste, jedenfalls eine seltene Möglichkeit, sich politisch zu äußern. Während der Arbeiter, der gestrige Menschewik oder Sozialrevolutionär, seine Stimme der Partei der Bolschewiki gab und den Soldaten mitriß, traten der Droschkenkutscher, der Briefträger, der Portier, die Händlerin, der Krämer, dessen Kommis und der Lehrer durch einen so heroischen Akt wie die Stimmabgabe für den Sozialrevolutionär zum ersten Male aus ihrem politischen Nichtsein hervor. Mit Verspätung stimmten die kleinbürgerlichen Schichten für Kerenski, weil dieser in ihren Augen die Februarrevolution, die sie erst heute erreicht harte, verkörperte. Mit ihren 60 Prozent sozialrevolutionärer Mehrheit leuchtete die Moskauer Duma in dem letzten Lichte eines erlöschenden Gestirns. Ebenso verhielt es sich mit den anderen Organen der demokratischen Selbstverwaltung. Kaum entstanden, wurden sie von der Ohnmacht des Zuspätgekommenseins ereilt. Das bedeutet, daß der Gang der Revolution von den Arbeitern und Soldaten abhing, nicht aber von dem menschlichen Staub, den die Stürme der Revolution erhoben und aufwirbelten.
    Das ist die tiefe und zugleich einfache Dialektik des revolutionären Erwachens der unterdrückten Klassen. Die gefährlichste unter den Aberrationen der Revolution besteht darin, daß der mechanische Zähler der Demokratie den gestrigen, heutigen und morgigen Tag summiert und damit formelle Demokraten darauf stößt, den Kopf der Revolution dort zu suchen, wo sich in Wirklichkeit ihr gewichtiger Schwanz befindet. Lenin lehrte seine Partei, zwischen Kopf und Schwanz zu unterscheiden.

Kapitel 22: Sowjetkongreß und Junidemonstration
    Der erste Sowjetkongreß,
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