Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
nicht vertragen. Wenn die Hauptstadt in der Revolution eine so dominierende Rolle spielt und in gewissen Momenten gleichsam den Willen der Nation in sich konzentriert, dann eben deshalb, weil sie die wesentlichsten Tendenzen der neuen Gesellschaft am krassesten ausdrückt und zu Ende führt. Die Provinz empfindet die Schritte der Hauptstadt als ihre eigenen, aber bereits in die Tat umgesetzten Absichten. Die initiative Rolle der Zentren ist nicht eine Verletzung des Demokratismus, sondern seine dynamische Verwirklichung. Jedoch fiel in großen Revolutionen der Rhythmus dieser Dynamik niemals mit dem Rhythmus der formalen, repräsentativen Demokratie zusammen. Die Provinz schließt sich den Handlungen des Zentrums an, nur mit Verspätung. Bei der eine Revolution charakterisierenden schnellen Entwicklung der Ereignisse führt dies zu scharfen, mit Methoden der Demokratie nicht zu lösenden Krisen des revolutionären Parlamentarismus. In allen wirklichen Revolutionen zerschlug sich die Nationalvertretung unvermeidlich den Kopf an der Dynamik der Revolution, deren Hauptherd die Hauptstadt war. So im siebzehnten Jahrhundert in England, im achtzehnten in Frankreich und im zwanzigsten in Rußland. Die Rolle der Hauptstadt wird nicht durch die Traditionen des bürokratischen Zentralismus, sondern durch die Lage der führenden revolutionären Klasse bestimmt, deren Avantgarde sich naturgemäß in der Hauptstadt konzentriert: das trifft in gleicher Weise für die Bourgeoisie wie für das Proletariat zu.
Als der Februarsieg feststand, ging man an das Zählen der Opfer. In Petrograd wurden ermittelt: 1.443 Tote und Verwundete, darunter 869 Militärpersonen, davon 60 Offiziere. Verglichen mit der Zahl der Opfer einer beliebigen Schlacht der großen Metzelei sind diese erheblichen Zahlen verschwindend gering. Die liberale Presse verkündete die
Februarrevolution als eine unblutige. In den Tagen allgemeiner Auflösung der Gefühle und gegenseitigen Amnestierens der patriotischen Parteien unternahm es niemand, die Wahrheit festzustellen. Albert Thomas, der Freund alles Siegreichen, sogar siegreicher Aufstände, schrieb damals von der "allersonnigsten, allerfestlichsten, allerunblutigsten russischen Revolution". Allerdings in der Hoffnung, sie würde zur Verfügung der französischen Börse bleiben. Aber schließlich hatte nicht Thomas das Pulver erfunden. Am 27. Juni 1789 rief Mirabeau: "Welches Glück, diese große Revolution wird ohne Morde und ohne Tränen auskommen! ... Die Geschichte hat zu lange nur von Raubtiertaten berichtet ... Wir dürfen hoffen, die Geschichte der Menschen zu beginnen." Als alle drei Stände sich in der Nationalversammlung vereinigt hatten, schrieben die Vorfahren von Albert Thomas: "Die Revolution ist beendet, sie hat keinen Tropfen Blut gekostet." Und man muß zugeben, daß es in jener Periode tatsächlich noch kein Blut gegeben hatte. Anders in den Februartagen. Doch die Legende von der unblutigen Revolution erhielt sich hartnäckig, da es dem Bedürfnis des liberalen Bourgeois entsprach, die Sache so darzustellen, als sei ihm die Macht von selbst zugefallen.
Wenn aber die Februarrevolution auch nicht unblutig gewesen ist, so muß man doch staunen über die geringe Zahl an Opfern, sowohl im Augenblick des Umsturzes als auch besonders in der ersten nachfolgenden Periode. War es doch eine Abrechnung für Sklaverei, Verfolgungen, Hohn und niederträchtige Mißhandlungen, denen die Volksmassen Rußlands jahrhundertelang ausgesetzt gewesen waren! Matrosen und Soldaten rechneten zwar hie und da mit ihren schlimmsten Schindern in Gestalt von Offizieren ab. Doch war die Zahl solcher Vergeltungen verschwindend im Vergleich mit der Zahl der alten blutigen Kränkungen. Die Massen streiften ihre Gutmütigkeit erst bedeutend später ab, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß die herrschenden Klassen alles zurückzuzerren und die Revolution, die sie nicht vollbracht hatten, für sich auszunutzen suchten, wie sie sich stets die Güter des Lebens, die sie nicht erzeugten, anzueignen pflegten.
Tugan-Baranowski hat recht, wenn er sagt, die Februarrevolution hätten die Arbeiter und Bauern vollbracht, die letzteren in der Person des Soldaten. Es bleibt aber die große Frage bestehen, wer hat den Umsturz geleitet? Wer hat die Arbeiter auf die Beine gebracht? Wer die Soldaten auf die Straße geführt? Nach dem Siege wurden diese Fragen Gegenstand von Parteikämpfen. Am einfachsten suchte man sie durch eine
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