Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
des Exekutivkomitees den gleichen Satz, den ein namenloser Arbeiter zusammen mit der schwieligen Faust Tschernow präsentierte: "Nimm die Macht, wenn man sie dir gibt." Als Antwort holten die Versöhnler Kosaken. Die Herren Demokraten zogen den Bürgerkrieg gegen das Volk dem unblutigen Übergang der Macht in ihre eigenen Hände vor. Als erste schossen die Weißgardisten. Doch die politische Atmosphäre des Bürgerkrieges war geschaffen von den Menschewiki und Sozialrevolutionären.
Auf den bewaffneten Widerstand des gleichen Organs stoßend, dem sie die Macht übergeben wollten, verloren die Arbeiter und Soldaten den Sinn für das Ziel. Der gewaltigen Volksbewegung war die politische Achse herausgerissen. Der Julimarsch lief auf eine Demonstration hinaus, durchgeführt teilweise mit Mitteln des bewaffneten Aufstandes. Mit gleichem Recht kann man auch sagen, es war ein halber Aufstand im Namen eines Zieles, das keine anderen Methoden außer der reinen Demonstration zuließ.
Während sie auf die Macht verzichteten, gaben die Versöhnler sie gleichzeitig auch nicht restlos an die Liberalen ab: sowohl weil sie vor ihnen Angst hatten - der kleine Bourgeois fürchtet den großen -, wie auch, weil sie um diese bangten -, ein reines Kadettenministerium wäre sofort von den Massen gestürzt worden. Mehr noch: wie Miljukow richtig bemerkt: "Im Kampfe gegen das eigenmächtig bewaffnete Auftreten sichert sich das Exekutivkomitee des Sowjets das in den Unruhetagen vom 20. bis 21. April verkündete Recht, nach eigenem Ermessen über die bewaffneten Kräfte der Petrograder Garnison zu verfügen." Die Versöhnler fahren in alter Weise fort, sich die Macht unter ihrem eigenen Kissen wegzustehlen. Um bewaffneten Widerstand denen zu bieten, die auf ihren Plakaten die Macht der Sowjets fordern, ist der Sowjet gezwungen, tatsächlich die Macht in seinen Händen zu konzentrieren.
Das Exekutivkomitee geht noch weiter: es verkündet in diesen Tagen formell seine Souveränität. "Würde die revolutionäre Demokratie den Übergang der gesamten Macht in die Hände des Sowjets für notwendig erachten", lautet die Resolution vom 4. Juli, "so könnte über diese Frage nur die Vollversammlung der Exekutivkomitees beschließen." Während es die Demonstration zugunsten der Sowjetmacht als konterrevolutionären Aufstand erklärte, konstituierte sich das Exekutivkomitee gleichzeitig als oberste Macht und entschied das Schicksal der Regierung.
Als beim Morgengrauen des 5. Juli die "treuen" Truppen das Taurische Palais betraten, meldete ihr Kommandeur, seine Abteilung unterwerfe sich voll und ganz dem Zentral-Exekutivkomitee. Kein Wort von der Regierung! Aber auch die Rebellen waren ja bereit, sich dem Exekutivkomitee als der Macht zu unterwerfen. Bei Obergabe der Peter-PaulFestung hatte deren Garnison nur nötig, ihre Unterwerfung unter das Exekutivkomitee zu erklären. Niemand forderte Unterwerfung unter die offizielle Regierung. Auch die von der Front herbeigerufenen Truppen stellten sich restlos dem Exekutivkomitee zur Verfügung. Weshalb aber floß dann Blut?
Hätte der Kampf am Ausgang des Mittelalters stattgefunden, beide Parteien hätten einander tötend, die gleichen Bibelsprüche zitiert. Historiker-Formalisten wären später zu der Schlußfolgerung gekommen, der Kampf sei um die Textauslegung geführt worden: die mittelalterlichen Handwerker und die unwissenden Bauern hatten bekanntlich die seltsame Leidenschaft, sich wegen philologischer Feinheiten in der Offenbarung Johannis töten zu lassen, wie die russischen Raskolniki sich der Ausrottung preisgaben der Frage wegen, ob die Bekreuzigung mit zwei oder drei Fingern auszuführen sei. In Wirklichkeit verbarg sich im Mittelalter nicht minder als heute unter den symbolischen Formeln ein Kampf von Lebensinteressen, den man aufzudecken verstehen muß. Der gleiche evangelische Vers bedeutet für die einen Leibeigenschaft, für die anderen - Freiheit.
Doch gibt es viel frischere und näherliegende Analogien. Während der Junitage 1848 erscholl in Frankreich auf beiden Seiten der Barrikaden der gleiche Schrei: "Es lebe die Republik!" Den kleinbürgerlichen Idealisten erschienen deshalb die Junikämpfe als Mißverständnis, hervorgerufen durch die Fahrlässigkeit der einen und die Heißspornigkeit der anderen. In Wirklichkeit wollten die Bourgeois eine Republik für sich, die Arbeiter - eine Republik für alle. Politische Parolen dienen häufiger dazu, Interessen zu maskieren, als dazu, sie
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