Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
schutzlosen Dienerin der Kunst. Dieses Thema nährte Leitartikel und Feuilletons. Schmierige Arbeiter und Soldaten zwischen Samt, Seide und Teppichen! Alle Beletagen der Hauptstadt erschauerten vor sittlicher Entrüstung. Wie ehemals die Girondisten die Verantwortung für die Septembermorde, den Matratzendiebstahl aus einer Kaserne und die Predigt des Agrargesetzes auf die Jakobiner abschoben, so beschuldigten jetzt Kadetten und Demokraten die Bolschewiki, daß diese die Pfeiler der menschlichen Moral untergrüben und auf die Parkettboden der Villa Kschessinskaja spuckten. Die dynastische Ballerina wurde das Symbol der von den Hufen der Barbarei zertretenen Kultur. Diese Apotheose beschwingte die Besitzerin, und sie wandte sich beschwerdeführend an das Gericht, das die Ausquartierung der Bolsche-wiki verfügte. Doch das war gar nicht so einfach. "Die im Hofe Wache haltenden Panzerwagen sahen recht Achtung gebietend aus", erzählt das Mitglied des damaligen Petrograder Komitees, Saleschski. Außerdem waren das Maschinengewehrregiment wie auch andere Truppenteile bereit, im Notfalle die Panzerautos zu unterstützen. Am 25. Mai hatte das Büro des Exekutivkomitees auf die Beschwerde des Advokaten der Ballerina verfügt, "die Interessen der Revolution verlangen die Unterwerfung unter rechtskräftige Gerichtsbeschlüsse". Über diesen platonischen Aphorismus waren die Versöhnler jedoch nicht hinausgegangen, zum großen Ärger der nicht zum Platonismus neigenden Ballerina.
In der Villa setzten Zentralkomitee, Petrograder Komitee und Militärorganisation Seite an Seite ihre Arbeit fort. "Im Hause Kschessinskaja", erzählt Raskolnikow, "drängte sich unaufhörlich eine Menge Volk. Die einen kamen geschäftlich in dies oder jenes Sekretariat, die anderen zum Bücherlager ..., die dritten zur Redaktion der Soldatskaja Prawda, die vierten zu irgendeiner Sitzung. Versammlungen fanden sehr häufig statt, manchmal ununterbrochen, entweder unten in dem geräumigen breiten Saal oder oben im Zimmer mit dem langen Tisch, wohl dem ehemaligen Speisezimmer der Ballerina." Vom Balkon der Villa, über dem die imposante Fahne des Zentralkomitees wehte, veranstalteten die Redner dauernd Kundgebungen, nicht nur tags, sondern auch nachts. Häufig kam in tiefer Dunkelheit irgendein Truppenteil oder eine Arbeitergruppe vor das Haus und verlangte nach einem Redner. Es blieben vor dem Balkon auch zufällige Bürgergruppen stehen, deren Neugier periodisch durch einen Zeitungslärm geweckt wurde. In den kritischen Tagen näherten sich dem Hause flüchtig auch feindselige Demonstrationen, die Lenins Verhaftung und die Vertreibung der Bolschewiki forderten. Hinter den Menschenströmen, die das Palais umspülten, spürte man die aufgewirbelten Tiefen der Revolution. Den Gipfelpunkt erlebte das Haus Kschessinskaja in den Julitagen. "Als Hauptstab der Bewegung erwies sich nicht das Taurische Palais", schreibt Mi1jukow, "sondern Lenins Zitadelle, das Haus Kschessinskaja mit dem klassischen Balkon." Die Niederschlagung der Demonstration mußte zwangsläufig zur Niederschlagung des Stabsquartiers der Bolschewiki führen.
Gegen 3 Uhr nachts wurde gegen das Haus Kschessinskaja und die Peter-Paul-Festung, beide durch einen Wasserstreifen voneinander getrennt, aufgeboten: das Reservebataillon des Petrograder Regiments, ein Maschinengewehrkommando, eine Kompanie Semjonowsker, eine Kompanie Preobraschensker, das Lehrkommando des Wolynsker Regiments, zwei Geschütze und eine Panzerabteilung von acht Wagen. Um 7 Uhr morgens forderte der Gehilfe des Kreiskommandierenden, der Sozialrevolutionär Kusmin, die Räumung der Villa. Da sie die Waffen nicht abliefern wollten, begannen die Kronstädter, deren im Palais nicht mehr als 120 Mann verblieben waren, in die Peter-Paul-Festung überzulaufen. Als die Regierungstruppen die Villa besetzten, fanden sie dort nur noch einige Angestellte vor ... Es blieb nun die Frage der Peter-Paul-Festung. Aus dem Wyborger Bezirk hatten sich, wie wir wissen, junge Rotgardisten zur PeterPaul-Festung übergesetzt, um im Notfalle den Seeleuten beizustehen. "Auf den Festungsmauern", erzählt einer von ihnen, "stehen einige Geschütze, wohl von den Matrosen für jeden Fall aufgestellt ... Es beginnt nach blutigen Ereignissen zu riechen." Doch diplomatische Verhandlungen lösten die Frage friedlich. Im Auftrage des Zentralkomitees schlug Stalin den Versöhnlerführern vor, gemeinsam Maßnahmen zur unblutigen Liquidierung der Kronstädter
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