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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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die im Entstehen begriffene Infrastruktur mit aller Härte zu bestrafen. Nach einem Ministerratsbeschluss vom 4. Mai 1937 folgte die Zerstörung ganzer Dörfer. Die Pilotin Sabiha Gökçen (1913–2001), eine Ziehtochter Atatürks, die in einem Geschwader der Luftwaffe diente und dabei eine Stammesversammlung durch Bombenabwürfe auflöste, wurde unverzüglich mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnet. Die Zwangsmaßnahmen reichten von der demütigenden Bartrasur der
Seyyids
(Prophetenabkömmlinge) bis zu Exekutionen. Schätzungen der Anzahl der Todesopfer unter der kurdischen Bevölkerung reichen von 12.000 bis 60.000. Obwohl 2000 Personenin den Westen des Landes umgesiedelt wurden, stand nicht etwa eine ethnische Neuordnung, sondern die Wiederherstellung der Ruhe im Vordergrund. Deportiert wurden vor allem einflussreiche religiöse und weltliche Persönlichkeiten, aber auch ganze Dörfer und Stämme. Ministerpräsident Erdoğan machte in einer Rede vor AKP-Funktionären im November 2011 eine Anzahl damaliger CHP-Politiker für «Dersim» verantwortlich, ohne ein klares Bedauern
seiner
Regierung auszudrücken.
    In dem Jahrzehnt nach dem İzmir-Kongress von 1923 vollzogen sich im wirtschaftlichen Bereich, abgesehen von wichtigen Verbesserungen der Verkehrswege, keine tiefgreifenden Veränderungen. Außerhalb Istanbuls gab es kaum größere Unternehmen, es fehlten Facharbeiter und Ingenieure, vor allem aber herrschte ein chronischer Kapitalmangel, den niemand durch Aufnahme von Auslandskrediten beheben wollte. Ein statistisch durchaus eindrucksvolles Wirtschaftswachstum in den 1920er Jahren hatte am Ende nur die Kriegsverluste ausgeglichen; in der Landwirtschaft wurde nicht einmal das Vorkriegsniveau erreicht. Die Periode des «milden Protektionismus» fand 1929 in der Weltwirtschaftskrise ein jähes Ende. Von dem weltweiten Niedergang der Agrarpreise waren zwei Drittel der Bevölkerung direkt betroffen. Die heftige Deflation wirkte sich vor allem auf die Getreideerzeugung aus, wo die Preise um 70 % einbrachen, etwas weniger auf Baumwolle und exportstarke Sonderkulturen wie Tabak, Feigen oder Haselnüsse (30–50 %).
    Die Entwicklung verminderte die Kaufkraft der Kleinbauern, deren Ackerland ohnehin ständig schrumpfte, weil der Besitz wegen der üblichen Realteilung zersplitterte. An- und Verkaufspreise gingen immer weiter auseinander. Durch einen bösen Zufall war 1929 auch das Jahr, in dem die erste Rate der osmanischen Staatschulden fällig wurde, die das Land bis 1948 belasteten. Nach einem verhältnismäßig ungesteuerten Wirtschaftsleben waren die 1930er Jahre dann teilweise von planwirtschaftlichen Strukturen geprägt. İsmet İnönü war schon 1925, als es um den Aufbau einer nationalen Zuckerindustrie ging, in einen Gegensatz zu Celal Bayar geraten, der nur durch die Vermittlung von Atatürk ausgeglichen werden konnte. İsmethatte sich offensichtlich auf die Seite derjenigen Finanzpolitiker geschlagen, die den Ausfall von Zolleinnahmen für ausländischen Zucker befürchteten. Im September 1932 ernannte Atatürk den von ihm als Fachmann geschätzten Celal Bayar erneut zum Wirtschaftsminister. Selbstverständlich musste er sich zum Etatismus bekennen, schränkte aber ein: «Im wirtschaftlichen und nationalen Leben der Türkei sind ehrlich erworbene und verdiente Gewinne kein sozialer Schandfleck.»
    Die Aufnahme des «Etatismus» in das Programm der Volkspartei hatte den Ruf nach einer Planwirtschaft, insbesondere in Kreisen der Herausgeber der linkskemalistischen Zeitschrift
Kadro,
lauter werden lassen. Eine persönliche Fühlungnahme mit dem sowjetischen Industrialisierungsmodell lag nahe. Zu Recht wird in diesem Zusammenhang der Reise İsmet İnönüs nach Moskau und Leningrad (25. April–10. Mai 1932) besondere Bedeutung beigemessen. Stalin hofierte die türkische Delegation, die auch das Komitee für die Wirtschaftsplanung (
Gosplan
) besuchte und mit einer ungewöhnlichen Kreditzusage nach Hause fuhr. Die Türkei erhielt – erstmals von einem ausländischen Staat – einen zinslosen Kredit in Höhe von acht Millionen Golddollar, den sie innerhalb von zwanzig Jahren in Form von Warenlieferungen abzahlen konnte. Darüber hinaus sagte die Sowjetunion technische Hilfe zu. Eine im August eingetroffene Arbeitsgruppe («Orlov-Delegation») überreichte nach vier Monaten einen Bericht, auf dessen Grundlage am 11. April 1934 der Erste Fünfjahres-Industrieplan der Türkei verabschiedet wurde. Den

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