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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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als auch die Anfang des 20. Jahrhunderts an vielen westlichen Hochschulen betriebene physische Anthropologie in den Dienst seiner Geschichtsthese zu stellen, die von einer Auswanderung der Türken aus Zentralasien in prähistorischer Zeit ausging. Danach zählten die modernen Anatolier als «Kurzköpfige» zu den europäischen «Alpinen», die angeblich keine wesentlichen Unterschiede zu den türkischen Rassegenossen aufwiesen. Atatürks Ziehtochter Afet İnan (1908–1985), die in Genf einen Doktorgrad in Anthropologie erworben hatte, leitete aus der angeblichen Existenzvon tausendjährigen türkischen Skeletten im Boden Anatoliens das Eigentumsrecht der gegenwärtigen türkischen Nation ab.
    Turbulent waren die Verhältnisse im Hochschulbereich. Die Aufnahme der deutschen akademischen Emigranten ermöglichte es, dass am 31. Juli 1933 die alte Istanbuler Universität (
Dârülfünûn
)
de jure
für einen Tag geschlossen wurde und fast 100 Professoren entlassen wurden. Der Minister Reşit Galip begründete die Maßnahme damit, dass «angesichts der politischen und sozialen Umwälzungen die Universität in einer passiven Haltung verharrt habe, anstatt an der Grundlegung des neuen Systems mitzuwirken». Tatsächlich hatten die Professoren gezögert, die offizielle Geschichtsthese zu propagieren. Unzweifelhaft spielten jedoch Intrigen und Opportunismus bei den höchst willkürlichen Entlassungen und Wiedereinstellungen eine ähnliche Rolle wie bei späteren staatspolitisch begründeten «Säuberungen». Im «Hochkemalismus», dessen Beginn man mit dem Jahr 1931 ansetzen mag, wurden europäische künstlerische Genres nachdrücklich gefördert, während die Vernachlässigung der einheimischen Musikformen in einem Verbot von türkischer Musik im Rundfunk zwischen 1934 und 1936/37 gipfelte.
    Ab den späten 1920er Jahren nahm der Assimilationsdruck auf nichttürkische Gemeinschaften zu. Atatürk mahnte 1930 in seiner «Bürgerkunde» (
Vatandaş için medeni bilgileri
) vor dem Rückfall in osmanische Verhältnisse: Volksgenossen, die sich noch Kurde, Tscherkesse, Lase oder Bosnier nannten, verwendeten irrtümlich Bezeichnungen aus der Zeit der Despotie. Eine Anfang 1928 von der «Nationalen Türkischen Studentenvereinigung» (
Türk Milli Talebe Birliği
) inszenierte Aktion «Mitbürger, sprich Türkisch» zielte auf Nicht-Muslime. Mit Plakaten und Handzetteln richtete sie sich vor allem an die Bewohner von Städten wie Edirne, Istanbul und İzmir. Es kam zu Angriffen auf Passanten und Passagiere, die untereinander eine andere Sprache als Türkisch verwendeten oder eine der in Istanbul gedruckten französischen Tageszeitungen in der Öffentlichkeit lasen. Juden, deren Haussprache auch nach Jahrhunderten Spanisch geblieben war, während ihre gebildete Oberschicht oft besser Französisch als Türkisch sprach, waren das bevorzugte Zieldieser Aktionen. Mitte der 1930er Jahre wurde die «Sprich Türkisch»-Kampagne auch auf Muslime in der Provinz wie etwa Araber und griechischsprachige Einwanderer aus Kreta in Mersin ausgedehnt. Die thrakischen Juden waren 1934 massiven antisemitischen Ausschreitungen ausgesetzt, bei denen es zur Plünderung ihrer Häuser und Läden kam. Darauf sahen sich die meisten gezwungen, von Kırklareli nach Edirne und von dort aus nach Istanbul zu flüchten. Die Regierung İsmet İnönüs distanzierte sich deutlich und ging gegen ein Hetzblatt vor. Im Zeichen von Nationsbildung und Modernisierung entwickelte sich eine explosive Mischung aus Frustration und Chauvinismus, die sich gegen alles «Fremde» entlud, so auch gegen Juden. Ein kennzeichnender Vorgang dieser Jahre war die Gründung einer turkophonen orthodoxen Kirche unter einem gewissen «Papa Eftim», der schon 1921 als Efthymios Karahisaridis in Kayseri eine Synode der turkophonen Orthodoxen (Karamanlı) geleitet hatte. Anfang 1933 zelebrierte er in Istanbul eine erste türkische Messe. Diese vom Staat wohlwollend beobachteten Aktivitäten scheiterten an der geringen Zahl ihrer Anhänger.
    Ein viel größeres Gewicht als alle anderen Minderheiten nahmen die Kurden im neuen türkischen Staat ein. Die Kurdenfrage reicht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück, als die osmanische Zentralmacht den fast autonomen soziopolitischen Raum zu durchdringen und aufzulösen begann. Aber erst gegen Ende des Jahrhunderts entstand unter den Kurden ein rudimentäres sprachliches und kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Umwandlung von einer

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