Geschichte der Tuerkei
ihr anvertraute Gut stets beschützen und in Atatürks Spuren fortschreiten. In der Tat erfolgte die Wahl İsmet İnönüs noch am Todestag seines Weggefährten. Nicht alle Vertrauten beider Männer hatten mit dieser Entscheidung gerechnet, hatte doch İnönü Atatürk zum letzten Mal Ende Januar 1938 die Hand geschüttelt – fast zehn Monate vor dessen Ableben. Jedenfalls blieben dem Land Nachfolgekämpfe, auch hinter den Kulissen, erspart.
In der türkischen Geschichtsschreibung gilt die Zeit zwischen Ende 1938 und 1950 als «Ära des Nationalen Oberhaupts» (
Milli Şef dönemi
). Dabei bleibt es umstritten, ob die «Revolution» mit Atatürk zu Grabe getragen wurde. Wenn auch İnönü selbst kein Revolutionär war, so umgab er sich doch mit westlich ausgerichteten Modernisten und förderte ihre Projekte. Wie Atatürk vereinigte er die Ämter des Präsidenten und Parteivorsitzenden auf sich und zögerte nicht, seinen Namen und sein Bild auf Banknoten und Briefmarken in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Mit ihm wurde ein Mann zum Präsidenten der Türkei, den man eher mit dem Begriff «Regierung» als mit dem Begriff «Staat» zu verbinden geneigt ist. Das Profil eines emotionsarmen, vor harten Entscheidungen nicht zurückschreckenden Geschäftsführers hatte mit der Zeit seinen Ruf als kriegserprobter Offizier und erfolgreicher Führer internationaler Verhandlungen verdrängt. Anders als Atatürk hatte sich İsmet İnönü nicht vom Islam gelöst, diese Bindung jedoch zu keinem Zeitpunkt in die Öffentlichkeit getragen. Der «Zweite Mann» war wie Atatürk ein intensiver Leser, hatte aber einen weiteren Horizont. Er sprach und las Französisch und Deutsch, in späteren Jahren eignete er sich noch das Englische an. Seine Interessen reichten von Physik und Chemie über die Weltliteratur bis zur klassischen westlichen Musik, die er in der Hauptstadt intensiv förderte.
Celal Bayar bildete Ende 1938 für wenige Wochen ein Übergangskabinett und trennte sich von zwei starken, als «nicht austauschbar» geltenden Persönlichkeiten des bisherigen Regimes.Şükrü Saraçoğlu (1887–1953) übernahm anstelle von Tevfik Rüstü Aras (1883–1972) das Außenministerium. Der mächtige Innenminister Şükrü Kaya (1883–1959) musste sein Amt an Refik Saydam (1881–1942) abgeben. Nachdem Atatürk in der Vorhalle des Ethnographischen Museums von Ankara beigesetzt worden war (sein riesiges Mausoleum wurde erst 1953 fertiggestellt), berief die Volkspartei noch vor Jahresende einen außerordentlichen Kongress ein, in dem Atatürk symbolisch zum «Ewigen Führer», İnönü aber – und das war die wichtigere Entscheidung – zum «Unabsetzbaren Präsidenten» eher akklamiert als gewählt wurde. Tatsächlich sollte İnönü 1939, 1943 und 1946 wiedergewählt werden und nach 1960 erneut eine ausschlaggebende Rolle in der türkischen Republik spielen. Damit hat er, wenn man seine früheren Jahre als Ministerpräsident mit berücksichtigt, mehr als drei Jahrzehnte die beiden höchsten Staatsämter ausgefüllt.
İnönü beschwor im Zusammenhang mit den Wahlen zur 6. Nationalversammlung am 26. März 1939 die Einheit der türkischen Nation im Befreiungskampf. Er hatte dafür gesorgt, dass nicht weniger als 125 neue Personen in das Parlament einzogen, unter ihnen zunächst zwei der wichtigsten von den alten Rivalen. Der Jugendfreund Atatürks und Mitkämpfer im Unabhängigkeitskrieg, Ali Fuad Cebesoy, mit dem sich der Republikgründer in der Frage der Regierungsform und des Kalifats gründlich überworfen hatte und der selbst in den Anschlag von İzmir hineingezogen worden war, erhielt das Amt des TBMM-Präsidenten. Auf Rauf Orbay, der auch nach der Rückkehr aus dem Exil seine Verletzung im Hinblick auf «Lausanne» (siehe S. 37) nie überwinden konnte, ging İnönü sogar persönlich zu: «Mein Bruder, ich möchte mit Ihnen zusammenarbeiten.» Gleichwohl blieb die TBMM ein willfähriges Instrument der Staats- und Parteiführung. Nur starke Figuren wie Kâzım Karabekir konnten in der Presse ihrem Unmut über die ganze bisherige Richtung freien Lauf lassen. So brandmarkte der grollende Pascha in einem Beitrag der Istanbuler
Tan
die zurückliegenden (Atatürk-)Jahre als eine «vom modischen Aberglauben geprägte Epoche». An vielen Stellen deuteten sich nun Risse zwischen einer straffen Auslegung von Atatürks Vermächtnis einerseits undeiner zaghaften Revision der radikalen Kulturrevolution an. Extreme Polarisierung, aber
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