Geschichte der Tuerkei
«Glaubenskrieg» (
Cihad
) gegen Aleviten auf. 56 Tote, 200 Verletzte und fast 300 verbrannte Gebäude waren die Bilanz allein dieser Ausschreitungen. Die Zeitungen brachten nur noch große Schlagzeilen, wenn prominente Politiker, Akademiker oder Journalisten (wie der Chefredakteur der Zeitung
Milliyet
Abdi İpekçi am 1. September 1979) vor allem des linksliberalen Spektrums zu Tode kamen. Bis zum September 1980 verzeichnete man 5713 Tote und 18.480 Verletzte – mehr Opfer als der Unabhängigkeitskrieg gekostet hatte. Auch die wirtschaftliche Situation war Ende des Jahrzehnts aufgrund fehlender Devisen so trostlos, dass Beobachter spekulierten, die Armee könne erst zu einem Zeitpunkt intervenieren, wenn wieder genügend Treibstoff für ihre gepanzerten Fahrzeuge zur Verfügung stehe. Für den Normalverbraucher war der Mangel an Grundnahrungsmitteln sowie an Benzin und Flaschengas eine jahrelange Realität.
Das schon länger erwartete Eingreifen der Streitkräfte unter Kenan Evren (geb. 1917), dem Generalstabschef und Vorsitzenden des Sicherheitsrats, erfolgte am 12. September 1980. Dies führte zunächst zum Sturz des letzten Kabinetts Demirel und bescherte der Türkei nach zweijähriger Quasi-Diktatur 1982 eine autoritäre, bis 2012 nur in Teilen liberalisierte Verfassung. Nach dem Putsch, der im Großen und Ganzen unblutig verlief, wandte sich Evren im Rundfunk an die Nation: Äußere und innere Feinde bedrohten ihre Existenz. Destruktive und separatistische Brandstifter könnten nach Belieben vorgehen. Reaktionäre und andere perverse Ideologien seien an die Stelle des Atatürkismus getreten. Verantwortlich seien die politischen Parteien «mit ihrem sterilen Gezänk und ihrer unversöhnlichen Haltung». Die Intervention habe zum Ziel, die Einheit des Landes zu bewahren, den nationalen Zusammenhalt zu gewährleisten, einem möglichen Bruderkrieg vorzubeugen und die Autoritätund Existenz des Staates aufs Neue zu begründen und so die Hindernisse zu beseitigen, die einem Funktionieren der demokratischen Ordnung im Wege stünden. Das Militärdienstrecht verpflichte die Streitkräfte, «die Türkische Republik zu bewahren und zu beschützen».
Als sofortige Maßnahmen gab Evren die Auflösung von Parlament und Regierung, die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten und die Verkündung des Staatsnotstands im ganzen Land bekannt. Zunächst wurde der Coup von allen Kommentatoren begrüßt. Während linke Publizisten fast beschwörend eine Korrekturrevolution «à la 27. Mai (1960)» herbeischreiben wollten, stellte die Rechte mit Genugtuung fest, dass am 12. September die Befehlskette von oben nach unten – im Gegensatz zu 1960 – funktioniert habe. Auf dieser Seite des politischen Spektrums erwartete man ein Präsidialsystem mit wenigen, moderaten Parteien. Dass Washington die Entwicklung wohlwollend verfolgte, steht außer Zweifel. In den Monaten vor dem Coup hatte sich das Verhältnis der USA zu Ankara verbessert. Der Sturz des iranischen Schahs und der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan (1979) hatten ohne türkisches Zutun die geostrategische Bedeutung des Landes deutlich aufgewertet. Im Licht heutiger Erkenntnisse ist es indes unzutreffend, dass der 12. September 1980 ein Produkt
Made in USA
oder gar der CIA war. Es ist ebenso unzutreffend – obwohl das zunächst viele Beobachter annahmen –, dass eine Protestveranstaltung in Konya am 6. September, die von Necmettin Erbakan und seinen Anhängern gegen die israelische Annexion Ostjerusalems organisiert worden war, den Coup ausgelöst hatte, auch wenn die dort entfalteten Spruchbänder offen gegen den laizistischen Charakter der Republik verstießen.
8. Vom Putsch des Generals Evren bis zu den Wahlsiegen Erdo ğ ans (1980–2012)
Nach dem 12. September 1980 erfüllten sich viele Erwartungen des rechten Spektrums. Die vom Militär zusammengestellte «Gründungsversammlung» (
Danışma Meclisi
) bereitete einen vom Sicherheitsrat überarbeiteten Verfassungsentwurf vor, der dann in einem Referendum am 7. November 1982 mit 91,3 % der Stimmen Zustimmung fand. Mit demselben Volksentscheid wählten die Türken den bisherigen Staatspräsidenten Kenan Evren zum siebten Präsidenten der Republik. Gleichzeitig wurden 700 Personen vom politischen Leben ausgeschlossen. Evren war überzeugt, dass seine Form von «Atatürkismus» als eine Art türkischer Dritter Weg das Land und seine Jugend gleichermaßen vor den Gefährdungen durch Kommunismus und
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