Geschichte der Tuerkei
Islamismus bewahren werde. Im System der «gelenkten Demokratie» (
Güdümlü Demokrasi
) wurde der Unterricht in Religion und Ethik in den ersten zwei Stufen des Schulsystems mit den Pflichtfächern gleichgestellt. Damit versuchte man, den Islam als nationales Bindemittel, vor allem zwischen der sunnitischen Mehrheit und der alevitischen Bevölkerungsgruppe, einzusetzen. Über diese vordergründige Instrumentalisierung der Religion hinausgehend bahnte sich noch eine im Milieu des konservativen «Intellektuellen-Forums» (
Aydınlar Ocağı
) entwickelte staatliche Version der «türkisch-islamischen Synthese» an. Die innige Verbindung von Nation und Religion habe dem Osmanischen Reich als einem der größten und langlebigsten Imperien der zivilisierten Welt Seele, Gestalt und Kraft verliehen. Bei einer Abwendung vom Islam verliere das Türkentum seine Identität, wie Beispiele an der Peripherie der türkischen Welt schmerzlich bewiesen hätten. Das Militär beeilte sich nach 1980, wichtige Institutionen wie den Hochschulrat (YÖK) und den Rundfunk (TRT) mit Anhängern der türkisch-islamischen Synthese zu besetzen. Selbstdie Staatsplanungsorganisation nahm die Doktrin von der «türkisch-islamischen Synthese» in einen «Nationalen Kulturplan» auf. Der Militarismus der kommenden zwei Jahrzehnte richtete sich zunehmend gegen den «Feind im Inneren». So wurde der Begriff «Nationale Sicherheit» nach dem 12. September im Sinne eines «Schutzes der Ruhe und Sicherheit der Gesellschaft» neu definiert. Parallel dazu verstärkte sich der Prozess der Kastenbildung des Offizierskorps, das in Institutionen wie der «Armeehilfsorganisation» (
Ordu Yardımlaşma Kurumu,
OYAK) ein lukratives Betätigungsfeld fand. Die 1961 durch ein Sondergesetz geschaffene OYAK entwickelte sich zu einer mächtigen Holding, vor allem in der Automobilindustrie, für die 1990 schon 23.000 Angestellte tätig waren. Ihre Gewinne dienen zur Aufbesserung der Pensionen von Offizieren und Unteroffizieren.
Nach dem 12. September 1980 wurden zahlreiche linke und einige rechte Organisationen zerschlagen. Über 517 Menschen wurden zum Tode verurteilt, an 26 politischen Angeklagten wurde die Strafe vollstreckt. Es gab Tausende von Verhaftungen, und unter der Folter fanden nachweislich 171 Menschen den Tod. Etwa 14.000 Türken wurde die Staatsangehörigkeit entzogen, 30.000 suchten nach einer Erhebung der Zeitung
Cumhuriyet
den Weg ins europäische Exil. Die mehr oder weniger freiwillige Auswanderung zahlreicher Akademiker und Künstler erzeugte einen auf Jahre spürbaren kulturellen Kahlschlag.
Der Gewerkschaftsdachverband DİSK erhielt ein zwölfjähriges Betätigungsverbot. Nach drei Jahren, in denen Streiks verboten waren, verloren die türkischen Arbeitnehmerorganisationen ihr klassenkämpferisches ideologisches Profil. Ihr Organisationsgrad war gering, zumal nur ein Bruchteil der Arbeitnehmer in tarifvertraglichen Beschäftigungsverhältnissen stand und steht.
Die 13 zivilen Kabinette zwischen 1983 und der «Erdrutschwahl» von 2002 wurden ausnahmslos misstrauisch vom Militär beobachtet, zugleich aber wachte die oberste Justiz über die Einhaltung der kemalistischen Prinzipien. Mit einem neuen Parteiengesetz kam es im Mai 1983 zur Gründung einiger neuer politischer Organisationen, unter denen allerdings nur die vom Militär favorisierte und von einem Ex-General geführte «NationaldemokratischePartei» (
Milliyetçi Demokrat Partisi
), die «Vaterlandspartei» (
Anavatan Partisi,
ANAP) als liberal-konservative sowie die «Populistische Partei» (
Halkçı Parti,
HP) als Links-Mitte-Partei zugelassen wurden. Bei den Parlamentswahlen im November errang zur Enttäuschung des Militärs die ANAP nahezu die Hälfte der Stimmen (45,15 %) und die absolute Mehrheit im Parlament. Auch die HP übertraf mit 30,27 % die
Milliyetçi Demokrasi Partisi
(23,27 %), die bald darauf von der Bildfläche verschwand. Die Vorstellungen der Armeeführung von einer nach ihren Plänen entworfenen Parteienlandschaft erwiesen sich als ein steriles Sandkastenspiel. Lediglich die ANAP als Erbin der DP-AP-Wählerschichten konnte sich auf längere Zeit behaupten. Unter Turgut Özal bildete sie zwei Kabinette und sollte bis 1991 die dominante politische Kraft bleiben.
Der Wirtschaftsfachmann Özal, wie Demirel und Erbakan ein studierter Ingenieur, wiederholte die Parolen rechtsgerichteter Politiker von einer «Groß-Türkei» und einer «Starken Türkei» in einem
Weitere Kostenlose Bücher