Geschichte der Tuerkei
verhältnismäßig realistischen Zusammenhang (Tanıl Bora). Präsident Evren misstraute Özal jedoch wegen dessen Verbindungen zur orthodoxen Nakşbendi-Bruderschaft. Özal, der schon vor dem 12. September 1980 an der Konzipierung eines Wirtschaftsreformprogramms maßgeblich beteiligt war, gilt als der Begründer der liberalen Phase der türkischen Volkswirtschaft. Freilich übernahm der Staat weiterhin wichtige Planungsaufgaben. Zudem gab es nach wie vor eine große Zahl von Betrieben in öffentlichem Besitz bzw. mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung. Schließlich wurde allerdings auch die liberalisierte Türkei nicht von schweren (1991, 1994) und schwersten (2000/01 mit einem Verlust von einem Viertel des Bruttosozialprodukts des Landes) Finanz- und Wirtschaftskrisen verschont.
Bei den allgemeinen Wahlen Ende 1987 konnte die ANAP ihr gutes Ergebnis von 1983 nicht wiederholen (36,4 %). Die «Sozialdemokratische Volkspartei» (
Sosyal Demokrat Halkçı Parti,
SHP) fuhr weniger als ein Viertel der Stimmen ein, die ideologisch verwandte «Demokratische Linkspartei» (
Demokrat Sol Partisi,
DSP), geführt von Ecevits Frau Rahşan, blieb außen vor, da sie mit 8,5 % die Zehn-Prozent-Hürde nicht überwand (dieSHP hatte eine Zusammenarbeit mit der DSP vor den Wahlen abgelehnt). In einem vorausgehenden Referendum über die Wiederzulassung der Altpolitiker hatten gerade 50,24 % der Wähler ihre Zustimmung gegeben. Die Zehn-Prozent-Hürde hinderte vorerst auch die «Wohlfahrtspartei» (
Refah Partisi,
RP) als Nachfolgerin von Erbakans «Heilspartei» am Einzug ins Parlament. Bei Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 setzte sich der Abwärtstrend der ANAP fort, während die RP jetzt sehr nahe an die entscheidenden 10 % heranrückte.
Der Wahlkampf des Jahres 1987 war von der verschärften Debatte um die Kopfbedeckung von Frauen in öffentlichen Räumen wie Schulen, Krankenhäusern und Behörden bestimmt. Das Verfassungsgericht hatte ein Gesetz zur Zulassung des Kopftuchs zurückgewiesen, was die Regierung jedoch nicht entmutigte, Ende 1990 einen zweiten Vorstoß zu unternehmen. Jedermann wusste, dass es in der Bevölkerung eine breite Befürwortung des Kopftuchs gab. Eine bemerkenswerte Neuerung der Özal-Jahre bestand darin, dass sich der Regierungschef das Recht nahm, mit Necip Torumtay einen Generalstabschef selbst zu bestimmen, und dadurch mit der Tradition brach, der Armee die Auswahl der höchsten Militärs zu überlassen. Trotzdem war darunter nicht unbedingt ein vollständiger Sieg ziviler Kräfte über das Militär zu verstehen, hatte sich Evren doch, wie man später erfuhr, mit Özal abgesprochen. Nach Ausbruch des Golfkriegs trat Torumtay als 20. Generalstabschef der Republik am 3. Dezember 1990 zurück, weil er Özals USA-freundliche Außenpolitik missbilligte. Diese Personalien sind als erste Vorzeichen eines 20 Jahre später deutlicheren Bedeutungsverlustes der Streitkräfte zu verstehen. Zunächst verfügten sie freilich weiterhin – ohne parlamentarische Kontrolle – nicht nur über das Verteidigungsbudget, sondern bestimmten auch ohne Rückfragen an die Regierung über so wichtige Themen wie Waffenlieferungen und Wehrdienstdauer. Die zweitgrößte NATO-Armee zog Mitte der 1990er Jahre im Drei-Monats-Rhythmus durchschnittlich 125.000 Männer ein. 1997 hatte sie eine Gesamtstärke von 737.770 Mann.
Nachdem sich Özal 1989 zum Präsidenten der Republik hatte wählen lassen (er starb in diesem Amt 1993), bestimmte er selbstherrlich den weithin unbekannten Politiker Yıldırım Akbulut zu seinem Nachfolger als Regierungschefs. Akbulut musste am 5. Februar 1990 die bittere Pille schlucken, dass – was allerdings voraussehbar war – der türkische Antrag von 1987 auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft abgelehnt wurde. Sein Nachfolger Mesut Yılmaz bemühte sich angesichts einer zunehmend besseren Wirtschaftslage Kurs auf Europa zu halten, aber erst 1996 wurde die Endphase der Zollunion mit der Europäischen Union erreicht. Die Türkei verpflichtete sich dabei, den ungehinderten Handel mit Industriegütern zwischen beiden Seiten zu ermöglichen. «Durch diesen Schritt erreichte die türkische Wirtschaft das höchstmögliche Niveau der Integration mit dem Gemeinsamen Markt unterhalb der Schwelle der Mitgliedschaft.» (Heinz Kramer)
Während sich die öffentliche Sicherheit in den Städten des Westens nach dem 12. September 1980 deutlich verbesserte, spitzte sich die Situation im
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