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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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unterzeichnet, das am 1. Dezember 1964 in Kraft trat. Es zielte auf die Errichtung einer Zollunion zwischen der Türkei und der EWG und stellte eine Mitgliedschaft in Aussicht. Der Präsident der EWG-Kommission, Walter Hallstein, rief dabei aus: «Die Türkei ist ein TeilEuropas … Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein.» Heinz Kramer wies darauf hin, dass durch solche Äußerungen «gewollt oder ungewollt» überdeckt wurde, dass es zwischen den EWG-Ländern rhebliche Meinungsunterschiede über Sinn und Zweck der Türkei-Assoziation gab: «Zudem riefen sie auf türkischer Seite unrealistische Erwartungen über die Kooperationsbereitschaft der europäischen Partner hervor, die bis heute nachwirken. Man darf aber nicht übersehen, dass in jener Zeit Personen wie Hallstein unter ‹Europa› natürlich nur das ‹freie› Europa verstanden, das ein fester Teil der westlichen Allianz war … Europäische Identität wurde damals, anders als heute, in Abgrenzung zum ‹kommunistischen Machtbereich›, nicht aber primär in Abgrenzung zur ‹islamischen Welt› definiert.»
    Der erste Vorsitzende der AP als der wichtigsten Regierungs- und Oppositionspartei der kommenden zwei Jahrzehnte war der pensionierte General Ragıp Gümüşpala. Dem politischen Neuling gelang es durch sein verbindliches Wesen, die außerordentlich inhomogene AP mit einem beachtlichen Ausmaß an innerparteilicher Demokratie aufzubauen. Eine als «Ehe» bezeichnete Koalition zwischen der CHP und der AP nach einer «Hochzeit im Schatten der Waffen» (William Hale) hielt nur sieben Monate (November 1961–Juni 1962). Gümüşpala übernahm selbst keinen Kabinettsposten. Sein unerwarteter Tod im Jahr 1964 zwang die Partei angesichts der bevorstehenden Wahlen zu einer raschen Lösung. Die Delegierten mussten zwischen zwei aus der Provinz Isparta im westlichen Inneranatolien stammenden Personen wählen, die für die Hauptrichtungen der türkischen Rechts-Mitte-Parteien standen: Aussichtsreich schien der 1920 geborene Arzt Sadettin Bilgiç, der sich selbstbewusst einer langen Reihe von Religionsmännern unter seinen Vorfahren rühmte. Er hatte die frühe Republik mit ihrer bürokratischen, realitätsfernen Gesundheits- und Wirtschaftspolitik erlebt. Da er als zu eng mit der DP verbunden galt und damit das Misstrauen der Militärführung hätte provozieren können, machte der 1924 (das heißt schon als Kind der Republik) geborene Bauernsohn Süleyman Demirel das Rennen.
Bevölkerung und Wirtschaft 1962
Gesamtbevölkerung
28 Millionen
Jährliches Bevölkerungswachstum
3 %
Landbevölkerung
73 %
Anteile des
Bruttosozialprodukts
Landwirtschaft
Industrie
Dienstleistungen
42 %
23 %
35 %
Einfuhren/Ausfuhren (in Millionen US-Dollar)
509/347
Analphabetismus
60 %
Trinkwasserzugang auf dem Dorf/in den Städten
53/55 %
Elektrizität
31 %
Kindersterblichkeit innerhalb des ersten Lebensjahrs
165 von 1000
Ärzteversorgung
1 Arzt auf 4000 Menschen
Tuberkulosekranke
2,5 %
Unzumutbare Wohnungen in den Städten
30 %
Einzimmerwohnungen in den drei größten Städten
30 %
    Demirels Familie hatte weder Wurzeln im Militär noch im Großgrundbesitzertum und schickte den Knaben auf eine staatliche Schule. Nachdem er sein Studium an der Istanbuler Technischen Universität abgeschlossen hatte, war er als einer der ersten türkischen Absolventen mit einem
Eisenhower Exchange Fellowship
zur Fortbildung in die USA gegangen. Als 31-Jähriger hatte er es zum Generaldirektor der staatlichen Wasserbehörde gebracht und sich den Beinamen eines «Königs der Staudämme» erworben. Sein größter Vorteil war, dass er sich bis 1962 von der Politik ferngehalten hatte. Anders als seine Konkurrenten um den Parteivorsitz galt er weder als extremer Nationalist noch als islamischer Konservativer. In Industriellenkreisen und in großen Teilen der Presse wurde die Wahl eines Technokraten begrüßt. Insgesamt sieben Amtszeiten lang pflegte er als Ministerpräsident den Dialog mit den Menschen «draußen im Lande». Er galt trotz seines typischen Filzhuts als Anatolier, der sich auf den Marktplätzen an den Dialekt der Gegend anpasste, bewusst sprachliche Archaismen wählte und gerne hervorhob, dass sein Vater ein «Mann der Erde war mit Schwielen an den Händen».Das von der CHP-nahen Presse geprägte, herabsetzend gemeinte Wort vom
Sülü Çoban
(«Klein-Süleyman, der Schafhirt») stellte sich am Ende als für ihn nützliche Propaganda heraus. Islam und

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