Geschichte der Tuerkei
Säkularismus waren für ihn nicht unvereinbar: «Der Staat kann laizistisch sein, aber die Nation kann nicht ohne Religion existieren.» So setzte Demirel den religionspolitischen Kurs der DP fort. In einem Land, das die Lektüre des Kommunistischen Manifests erlaube, dürfe man das Studium der
Risale-i Nur
nicht verbieten. Als Wirtschaftspolitiker bekannte er sich bis in die 1990er Jahre zu dem türkischen Weg eines gemischten Entwicklungsmodells. Bei allen Einwänden gegen seinen notorischen Opportunismus darf nicht übersehen werden, dass er sorgfältig vermied, die Armee mit heiklen Themen wie der Rehabilitierung der alten DP oder der Kritik an der Verfassung von 1961 aus ihrer Reserve zu locken.
Der Weg zur ersten Regierung unter einem AP-Ministerpräsidenten war kurz. 1965 gewann Demirels Partei nach drei İnönü-Kabinetten und einer Koalitionsregierung unter dem unabhängigen Senator Suat Hayri Ürgüplü (der freilich auf der AP-Liste von Kayseri stand und ein Kabinett mit zehn Ministern der AP bildete) die Parlamentswahlen mit deutlichem Vorsprung. Bei einer für türkische Verhältnisse geringen Beteiligung (71 % erzielte die AP die absolute Mehrheit mit 52,87 % bzw. 240 Deputierten. Die CHP hatte das historisch schlechteste Ergebnis mit 134 Sitzen. Zum ersten Mal befand sich mit der «Türkischen Arbeiter Partei» (
Türkiye İşçi Partisi,
TİP) eine sozialistische Gruppierung mit 15 Abgeordneten im Parlament. Während die TİP zunächst einen «Sozialismus mit einem lächelnden Angesicht» propagierte, übernahmen nach 1969 Moskau-hörige Funktionäre das Ruder der zunehmend bedeutungslosen Partei.
Die seit den 1970er Jahren verschärfte Links-Rechts-Polarisierung und eine ausweglose Wirtschaftslage, die mit den Stichwörtern Inflation, Arbeitsniederlegungen und Devisenmangel nur angedeutet werden kann, erzeugten eine anhaltende Krise. Am 12. März 1971 hatten die militärischen Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats eine «Denkschrift» (
muhtira
) veröffentlicht,in der sie dem Parlament und der Regierung vorwarfen, Atatürks Ziele verraten zu haben. Wenn die in der Verfassung vorgesehenen Reformen im Geiste Atatürks nicht durchgeführt würden, seien die Streitkräfte entschlossen, «ihre ihnen durch die Gesetze zugewiesene Pflicht des Schutzes und Bestandes der Türkischen Republik zu erfüllen und die Führung der Staatsangelegenheiten selbst zu übernehmen». Das Ergebnis dieses
Pronunciamento
waren zwei Jahre, in denen sich die Militärs die Herrschaft mit der Zivilregierung teilten und das Parlament zu einer Verfassungsänderung zwangen, die zu zahlreichen Einschränkungen von Grundrechten und Grundfreiheiten, alles Errungenschaften von 1961, führte. Vor allem Gewerkschaftler und linke Studenten waren von Massenverhaftungen betroffen. Zwischen dem 15. Mai 1972 und dem 12. September 1980 wurden insgesamt 16 Mal Politiker mit der Regierungsbildung beauftragt, sieben Mal mussten sie erklären, dass sie dazu nicht in der Lage seien, in zwei Fällen regierten Ministerpräsidenten ohne das Vertrauensvotum, das nur sieben Mal von der Versammlung erteilt wurde. Unter Bülent Ecevit (1925–2006), dem mehrfachen Ministerpräsidenten in den Jahren 1974, 1977 und 1978–1979, erfuhr die CHP einen deutlichen Ruck nach «links von der Mitte», ohne jemals die absolute Mehrheit der Wählerstimmen zu erobern. Ecevit hatte einen bildungsbürgerlichen Hintergrund, sein Vater war Medizinprofessor, seine Mutter Malerin. Nach Studien an dem amerikanisch geprägten Robert College in Istanbul ging er zunächst nach London, wo man ihn als «young poet» und literarischen Übersetzer kannte. In der CHP war er über das Amt des Generalsekretärs 1972 zum Vorsitzenden aufgestiegen. Als Vertreter eines sozialdemokratischen und zugleich im Hinblick auf die Annäherung an die Europäische Gemeinschaft zögerlichen Kurses gewann er die Wahlen im Oktober 1973. Mit Necmettin Erbakan (1926–2011), dem Führer der religiös ausgerichteten «Nationalen Heilspartei» (
Milli Selamet Partisi,
MSP), als «Königsmacher» wurde er Ministerpräsident. Sein kurzes erstes Wirken als Regierungschef wird bis heute vor allem mit der sogenannten «Zypern-Friedensoperation» verbunden.
Für die türkische Politik und eine breite Öffentlichkeit war die Zypern-Frage seit Jahrzehnten eines der wichtigsten Themen. Menderes war es nicht gelungen, Griechenland zu einer Teilung der Insel zu bewegen, er stimmte aber 1959 einer
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