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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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Prozess hinrichtete, keineswegs revolutionär war. Jenseits der staatlichen Stellen, die Tausende von Konzentrationslagern und KZ-Außenlagern errichteten, glaubten viele Deutsche tatsächlich, sie hätten nun wieder eine glückliche Gesellschaft mitsamt Vollbeschäftigung, das wärmende Gefühl einer funktionierenden «Volksgemeinschaft», in der man an Weihnachten für die Bedürftigen spendete («Winterhilfe») oder sich gelegentlich in allen Haushalten auf ein einfaches Mahl beschränkte («Eintopfsonntag»), in der es als Zeichen der Solidarität zwischen den Klassen Kreuzfahrten und andere gut organisierte Freizeitaktivitäten für die arbeitende Bevölkerung gab («Kraft durch Freude», in Italien hieß das «dopolavoro»).
    Eine der gravierendsten Leistungen der Partei bestand darin, dass Deutsche über die Brutalität des Regimes hinwegsahen, über die Demütigung und dann das Verschwinden der Oppositionsparteien und der Juden. Deutschland erwachte und schüttelte das angebliche «Joch von Versailles» ab; die willigen oder allenfalls vorsichtig grummelnden Bürger mussten die eine oder andere gesetzliche Einschränkung hinnehmen, aber gab es nicht auch in den USA eine Rassentrennung, die bestimmte Orte wie Parks oder Freizeiteinrichtungen allein den Weißen vorbehielt? Die «Reichskristallnacht» – das organisierte In-Brandsetzen und Zerstören von Synagogen überall in Deutschland am 9. November 1938 – sorgte für Aufsehen unter der Bevölkerung; in den großen und kleinen Städten ihres zivilisierten Landes kam es deutlich sichtbar zu offener Brandstiftung, Gewalt und Mord. Doch zu dieser Zeit war der Antisemitismus schon zu einem Grundpfeiler der nationalen Ideologie geworden: Der Jude war der Feind der Deutschen, und jeder isolierte Dissens von dieser Politik konnte gefährlich werden. Selbst kirchliche Würdenträger hielten, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, still. Das Regime arbeitete weiter eifrig daran, so viele deutsche Juden wie möglich zu demütigen, auszurauben und zur Emigration zu zwingen, die Verbliebenen und die Juden in all den Ländern, in die man einmarschierte, dann zu verhaften und in die im besetzten Polen errichteten Vernichtungslager zu deportieren und zu ermorden, nachdem man zuvor oft noch ihre Arbeitskraft ausgebeutet hatte. Hatten die deutschen Politstrategen eine Zeitlang lediglich daran gedacht, die Juden aus Westpolen in Ghettos zu pferchen, wo sie unter einer schlechten Versorgungslage zu leiden hätten und die Natur ihren Lauf nehmen würde, so beschlossen sie mit den Eroberungen von 1941, aktiver vorzugehen, zuerst durch Massenerschießungen und dann durch Vernichtungslager.

    Die Perversion des Leviathan: Numerierte Säcke mit den Haaren weiblicher Gefangener, die nach Deutschland transportiert werden sollten und von sowjetischen Soldaten bei der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 entdeckt wurden. Den Häftlingen wurden die Haare abrasiert: mitunter bei der Ankunft im Lager, mitunter, wie in Treblinka, vor der Vergasung, mitunter erst, wenn sie schon tot waren. Verwendet wurden die Haare zur Herstellung von Kleidung und Seilen, als Füllmaterial für Matratzen, als Isolierung für Schuhe und anderes.
    Für viele Intellektuelle schien das etwas ganz anderes zu sein als die sowjetische Erfahrung. Zwar herrschte in Russland und Polen ohne Zweifel noch immer ein gewisser Antisemitismus, doch die Russen verurteilten ihn als bürgerlich-nationalistische Ideologie. Immerhin gab es alte jüdische Kommunisten, und viele der Kommunistenführer in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, die in Moskau oder anderswo Zuflucht fanden, wurden von ihren Landsleuten, die ihre Rolle bei der Verankerung des Kommunismus 1946/47 hassten, als Juden identifiziert. Der Nationalsozialismus war geradezu besessen von dieser beinahe atavistischen Ideologie, die tatsächlich lange Zeit ein zentraler Aspekt rechtsgerichteter Kräfte überall in Mittel- und Osteuropa gewesen war, die gegen Kapitalismus, Sozialismus und Liberalismus waren. Der Kommunismus war als Ideologie ebenfalls «internationalistisch»: Er strebte nach proletarischen oder marxistischen Revolutionen überall auf der Welt, sobald die Verhältnisse reif dafür waren, doch Krieg aus nationalistischen Gründen lehnte er ab. Der Nationalsozialismus – und vielleicht auch der italienische Faschismus – war so eng mit der Verherrlichung kriegerischer Tugenden verbunden, dass ihm der Krieg

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