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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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als Erfüllung erschien, während es eine entsprechende sowjetische Eschatologie nicht gab. (Was Stalin freilich nicht daran hinderte, eine beeindruckende Luftwaffe und ein beachtliches Panzerkorps aufzubauen.)
    Aber ging es wirklich um Ideologie? Vielleicht lässt sich das Verhalten linker Intellektueller damit entschuldigen, dass sie nicht begriffen, dass der Hunger in der Ukraine mit seinen Millionen von Opfern verursacht war durch Moskaus Entscheidung, die Nahrungsmittelimporte zu stoppen.[ 176 ] Politische Denker würden sicherlich besonderes Augenmerk auf die dogmatischen Unterschiede zwischen den Ideologien legen, so wie einst Kirchenführer in Auseinandersetzungen um die reale Anwesenheit Jesu in der Eucharistie oder um die Frage, ob Gottvater und Gottessohn wesensgleich oder wesensähnlich seien, überall sofort Häresie witterten. Doch im Lauf der stalinistischen Jahre und dann mit Beginn des Kalten Krieges wurde immer deutlicher: Die praktischen Gemeinsamkeiten der Regime einten sie ebenso signifikant, wie die ideologische Feindschaft sie trennte. Faschismus wie Kommunismus beruhten auf dem Anspruch einer einzigen Partei, die Macht zu ergreifen und sie auszuüben (im nachrevolutionären Russland war das möglicherweise noch umfassender der Fall als in Deutschland und Italien, wo bürokratische Institutionen relativ immun blieben). Ihre Anhänger neigten in beiden Fällen dazu, den einen Führer zu verehren, seinen Verkündigungen Gesetzesrang zuzugestehen und sogar zu antizipieren, welche weiteren «Gleichschaltungsmaßnahmen» er wünschen könnte, noch bevor er sich explizit dazu geäußert hatte.[ 177 ]
    Natürlich waren nicht nur totalitäre Staaten intolerant gegenüber Opposition jeglicher Art und folgten der Vorstellung, diese müsse durch Zensur und Bestrafung unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden. Es gab und sollte auch weiterhin jede Menge ganz gewöhnlicher Tyranneien und noch brutalerer Despotien geben. Idi Amin stand in den 1970er Jahren in Uganda an der Spitze eines mörderischen Regimes; Mohammad Reza Schah Pahlavi regierte mit Hilfe einer diensteifrigen Geheimpolizei; das argentinische Militär sollte Tausende von Studenten und von potentiellen Oppositionellen ermorden. Das Besondere am totalitären Staat war, dass er vermeintlich auf ein kollektives Instrument der Veränderung setzte. Der Parteistaat verfolgte angeblich großangelegte Projekte, ob nun die physische Infrastruktur der Umerziehung oder die Umgestaltung der Nation als ethnische Einheit (wie in Deutschland), als Erbe eines Imperiums (wie in Italien) oder als Heimstatt eines historisch unausweichlichen Veränderungsprozesses (wie in der Sowjetunion). Der Staat machte nicht einfach nur die Macht, diese Projekte umzusetzen, gegenüber individuellen Rechten geltend (die er in Wirklichkeit zu schützen behauptete), sondern tat das, indem er die Geheimpolizei zu einem Kernelement der Herrschaft machte. Die Russen gründeten schon zu Beginn der Revolution die Tscheka als Schwert und Schild der Revolution. Sie verwandelte sich in immer weiter ausgreifende Geheimdienst- und Polizeibehörden, die fortwährend neu in Kommissariate und Ministerien organisiert wurden: Aus der OGPU wurde in den 1930er Jahren der NKWD, der sich dann in den 1950er Jahren in MWD und KGB aufspaltete. Diese riesigen Unternehmen betrieben den großen «Archipel Gulag» in Russland oder die Vielzahl an Konzentrationslagern in Deutschland, die unterschiedlich streng mit den Gefangenen verfuhren und noch vor den Arbeits- und Vernichtungslagern im besetzten Polen errichtet wurden.
    Es gab dabei jedoch einen bedeutsamen Unterschied: Der deutsche Staat definierte offen, wen er als Feind betrachtete: diejenigen, die sich kritisch äußerten, diejenigen, die mit Worten oder auf Flugblättern ihren Widerstand kundtaten, und schließlich alle, die Juden waren. Der «gewöhnliche» Bürger, der seine Meinung für sich behielt, war bis zum Ausbruch des Krieges relativ sicher. In der Sowjetunion hingegen erfolgten Verhaftungen oft scheinbar willkürlich und nach dem Zufallsprinzip. So wie später dann im China Maos oder in Kambodscha unter Pol Pot erfand der Staat Schuldkategorien: Wohlstand als Bauer, familiäre Herkunft und Beziehungen, politische Zurückhaltung, sodass die Zuschauer, die den Verdachtskategorien entgingen, zu Ritualen der Denunziation, der Komplizenschaft und der Identifikation mit dem Regime animiert wurden. Bei der Betrachtung dieser

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