Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Alptraumlandschaften des Terrors, dieses «univers concentrationnaire», wie es ein französischer Autor kurz nach dem Krieg genannt hat, muss der Historiker des Staates sich unweigerlich fragen: War dies der perverse Kulminationspunkt eines jahrhundertelangen Pochens auf staatliche Souveränität, oder statt dessen die dunkle Kloake «privater» Brutalität, in die Ideen öffentlicher Vernunft, bis dahin ein unterstelltes Element moderner Staatlichkeit, niemals vorgedrungen sind – oder vielleicht die Koexistenz von Gesetz und totaler Willkür, die der deutsche Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel mit einem treffenden Begriff als «Doppelstaat» bezeichnet hat?[ 178 ]
Im Westen fand das öffentliche Bewusstsein dafür, was Diktatur im 20. Jahrhundert bedeutete, seinen Höhepunkt im Kalten Krieg vor Stalins Tod. In den 1950er Jahren wirkten Beobachter, welche die Ähnlichkeiten zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus hervorhoben, überzeugender als diejenigen, welche die «Idee» des Sowjetsozialismus retten wollten und zu diesem Zweck die theoretischen Unterschiede betonten. Die Verteidiger beharrten darauf, der Staatssozialismus (ich verwende lieber diesen Begriff, als bloß vom Sozialismus zu sprechen) werde sich letztlich wandeln und die liberalen Staaten, die als Kolonialmächte fungierten, müssten die Verantwortung für die gleichermaßen schweren Sünden des Kolonialismus und Rassismus übernehmen. Zur Not brachten sie überdies vor, einzig die Sowjetunion habe die Niederlage von Hitler-Deutschland möglich gemacht. Wer mit Opferzahlen und nicht mit Ideen argumentierte, behauptete, tatsächlich habe das 20. Jahrhundert ein neues Paradigma von Politik und Staat geschaffen – das Paradigma des totalitären Parteistaates mit fürchterlichen Ambitionen und der Bereitschaft, für die eigene Sache Millionen von Individuen zu opfern.
Einige Beobachter taten sich dadurch hervor, dass sie die subjektive Erfahrung des überzeugten Kommunisten schilderten – die sich angloamerikanischen oder kontinentaleuropäischen Lesern leichter vermitteln ließ, weil so viele Prämissen dieser Ideologie einem gemeinsamen Aufklärungsliberalismus zu entspringen schienen. Von den Autoren, welche die institutionelle Erfahrung zu analysieren versuchten, ist Hannah Arendt bis heute am überzeugendsten und originellsten. Jenseits all der spezifischen Vergleiche oder der unterstellten Ursprünge, über die sich streiten lässt, begriff Arendt, welch zentrale Bedeutung die imperialistische Erfahrung für die Ideologien der Entmenschlichung hatte und wie wichtig der Antisemitismus für die mitteleuropäischen Doktrinen war. Sie arbeitete heraus, welche Rolle Partei und Terror spielten, und versuchte die totalitäre Gesellschaft als eine der isolierten Atomisierung zu analysieren, welche die Solidaritäten außerhalb des Staates zerstörte. Sie attestierte den Regimen vermutlich zu viel Effizienz, wenn es darum ging, Männer und Frauen auf isolierte Wesen zu reduzieren – es gab nach wie vor soziale Netzwerke, die all diese Regime in Frage stellten, denn Letztere erschütterten und zerstörten das Gemeinschaftsleben weniger, als dass sie es durchsetzten und unterwanderten.[ 179 ]
Das Totalitarismus-Etikett hat zu einer ganzen Reihe von Kontroversen geführt, die zum Teil bis heute andauern. Waren die Staaten wirklich so «total»? Immerhin gelang es ihnen nicht, das Wesen der Menschen zu verändern. Als die Jahrzehnte härtester Repression vorbei waren, sehnten sich die Russen noch immer nach der Kirche, und den Chinesen war die Familie nach wie vor heilig. Ein Nicht-Jude konnte sich in Hitler-Deutschland seine Ironie und sein Misstrauen bewahren, solange er nicht darauf beharrte, beides öffentlich zu bekunden. Waren die Menschen von den harschen Praktiken der Diktatur befreit, schienen sie ängstlich darauf bedacht zu sein, die Erfahrungen abzustreifen; die Zahl der Neonazis, der erklärten Faschisten und derjenigen, die Russland oder China wieder in einen Zustand ungehinderter Gewalt zurückbefördern wollten, war gering. Und doch manifestierte sich im Begriff des Totalitarismus – so schwierig und problematisch er auch war, ganz besonders im Hinblick auf die erschöpften spätsozialistischen Regime der 1970er und 1980er Jahre – der Versuch, eine grundlegende staatliche Erfahrung begreifbar zu machen, nämlich die des Hyperstaates oder, um Carl Schmitts Dezisionismus zu bemühen, des Staates im Ausnahmezustand. Der
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