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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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totalitäre Staat – der mit dem kriegführenden und dem revolutionären Staat verwandt ist, die beide üblicherweise als zeitlich begrenzte Phänomene galten – war die extremste Erscheinungsform einer Instrumentalität, die in den 1860er und 1870er Jahren neu mobilisiert worden war, um mittels neuer Kommunikationsformen geschlossene nationale Gemeinschaften oder Überseeimperien zu schaffen. Er stand für den Wunsch, über eine mächtige Veränderungsagenda zu verfügen – also mit Hilfe von Regierungsmacht positive Projekte in Angriff zu nehmen und das Gemeinwesen nicht einfach nur still zu verwalten. Er entsprang jedoch auch der weit verbreiteten Überzeugung, in einer Welt voller Feinde, die einen entmutigen, wenn nicht gar töten wollten, bedürfe es der Mobilisierung von Regierung und sozialem Wandel. Erneut war Politik Krieg, ja, sie hatte gar keine andere Wahl, als Krieg zu sein.
    Die Weltkriege – und dann die langen Kämpfe in der kolonialen Welt, bei denen es darum ging, entweder die Kolonien zu behalten oder die Kolonialmächte abzuschütteln – ließen diese Projekte der Machtvergrößerung noch plausibler erscheinen. Denn in Kriegszeiten nehmen Staaten zahlreiche Merkmale an, die man in Friedenszeiten als an der Schwelle zur Tyrannei betrachten würde: die Abkommandierung junger Menschen zu gefährlicher Arbeit, Restriktionen für Unternehmer, damit sie produzierten, was für den nationalen Kampf nötig war, das Befeuern öffentlicher und patriotischer Loyalitätsbekundungen, die Verfolgung all jener, die von dieser Politik abwichen, und selbst in liberalen Gesellschaften der erneute Rückgriff auf das Mittel massenhafter Inhaftierung. Kriegsstaaten wurden aufgelöst, wenn die Rechtfertigungen dafür nicht mehr gegeben waren – aber sie waren Teil des 20. Jahrhunderts, denn sie machten auch Liberale und Demokraten glauben, Staaten könnten legitimerweise eine besondere Entscheidungsmacht für sich beanspruchen. All das hatte sich in früheren Situationen bereits angekündigt: in den Kriegen der französischen Revolutionäre gegen die Monarchen zwischen 1792 und 1802; im totalen Krieg in Paraguay 1864–1870; im berserkerhaften Königreich der Taiping; in den türkischen Massakern an Griechen und Armeniern. Das Repertoire für den Militäreinsatz war vorhanden, insofern überrascht es nicht, dass man darauf zurückgreifen konnte, wenn die Kriege abflauten oder wieder vorbei waren. Waren die Staaten im Ausnahmezustand also nichts weiter als Kriegsstaaten auf dauerhafter Basis? War ihr Umgang mit Widerstand, der als rassisch andersartig, als Kolonie innerhalb der eigenen Grenzen behandelt wurde, um keinen Deut anders als die Art und Weise, wie sie die Kolonialsubjekte behandelten?
    Tatsächlich waren sie absoluter. Massaker und Völkermord in den Kolonien folgten auf das, was in den Augen lokaler Siedler und Soldaten Widerstand war. Sie waren das Bemühen, ein unterjochtes Volk mittels Terror zu regieren. Einige der Arbeitspraktiken in den Kolonien beruhten auf der Bereitschaft, unmenschliche Disziplin aufzuzwingen; das hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, wie das nationalsozialistische Deutschland mit den zwangsrekrutierten oder aus anderen Ländern verschleppten «Sklavenarbeitern» verfuhr. Doch die Hyper-Regime zu Hause gründeten auf der Vorstellung, diese Form der Herrschaft, der absoluten Hegemonie, der Aufhebung liberaler Regeln, der Glorifizierung von Dezision und Entwertung jeglicher Diskussion entspreche der Art und Weise, wie Männer und Frauen ihr gesamtes Leben zubringen sollten. Sie weiteten die Vorstellung von einem unterschiedlichen «Menschsein», das Rasse und Krieg im Zuge der Konfrontation mit anderen zu etwas «Naturgegebenem» machten, auf die eigene Nation aus. Sie führten vor Augen, dass die Praktiken, die sich aus «natürlichen» Situationen ergaben – aus der Konfrontation mit farbigen Menschen, aus der Konfrontation mit Invasoren –, nicht nur in Rassenunterschieden oder dem Exzeptionalismus des kriegsbedingten Antagonismus gründeten, sondern in einem schlummernden Projekt der inneren Reinigung.[ 180 ] Mit diesen Projekten erreichte die Geschichte einen Anspruch des Staates, der exzeptionell war. Oder um die titelgebende Metaphorik noch einmal aufzugreifen: Das war nicht mehr der Leviathan 2.0, sondern ein Leviathan irgendwo zwischen 2.1 und 2.9. Abschließend werde ich kurz skizzieren, wie der Leviathan 3.0 aussehen könnte. Doch zunächst sei kurz daran

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