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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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welche umfassende sozialstaatliche Leistungen beinhaltete und insgesamt für eine hochgradig strukturierte und gesetzlich regulierte Ökonomie («soziale Marktwirtschaft») sorgte. Ein ganz ähnliches System entwickelte sich nach dem Krieg in Japan. In Italien erbten die Christdemokraten eine umfangreiche staatliche Holdinggesellschaft namens Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI), welche die Faschisten gegründet hatten, als sie massenhaft Anteile an italienischen Kohle-, Stahl- und Chemieunternehmen sowie an der italienischen Ölindustrie übernahmen, um diese Firmen zu retten. Es entstand eine neue Elite aus staatlichen Planern und Technokraten, die über das italienische «Wirtschaftswunder» der 1950er und 1960er Jahre wachten.[ 181 ]
    Der Wohlfahrtsstaat und die mixed economies schienen eine Generation lang politischer Konsens zu sein, doch von den 1970er Jahren an wurden sie zum Ziel von Kritik und Deregulierungsmaßnahmen. Das ist freilich eine ganz andere Geschichte. Der vielleicht aussagekräftigste Einzelindikator für die Rolle des renormalisierten Staates war die so genannte Staatsquote, also der Anteil an den nationalen Ausgaben (am Volkseinkommen oder, aus Produktionssicht, am Bruttoinlandsprodukt), der von der Regierung getätigt wurde, ob für Investitionen in die Infrastruktur, Militärausgaben, Transferzahlungen oder Förderprogramme. Schätzungen zufolge gab das französische Ancien Régime Ende des 18. Jahrhunderts bis zu 25 Prozent des Volkseinkommens für die Streitkräfte, für Straßen und Kanäle, für die Aufwendungen des königlichen Hofes sowie für die Zinszahlungen an Anleihenbesitzer aus. Die Wohlfahrt überließ man weitgehend kirchlichen Einrichtungen. Im 19. Jahrhundert hingegen war Regieren in Westeuropa eine weitgehend kostengünstige Angelegenheit. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs belief sich die Staatsquote in Großbritannien und Deutschland auf rund zwölf bis 15 Prozent des BIP und verteilte sich auf Rüstung, Infrastruktur, Bildung und den nationalen Schuldendienst. Mit dem Ersten Weltkrieg stiegen die Staatsausgaben drastisch an: auf gut 40 Prozent in Frankreich (obwohl vieles durch ausländische Kredite abgedeckt war) und auf 45 bis 50 Prozent in Großbritannien und Deutschland. Diese enorme Ausweitung staatlicher Ansprüche ließ sich nur zum Teil über Steuereinnahmen abdecken; überwiegend wurde das Geld in Form von Krediten aufgenommen, ob direkt bei den Bürgern oder, häufiger noch, über die Zentralbank – was wir heute als Ausweitung der Geldmenge bezeichnen –, was zu steigenden Preisen und einem Kaufkraftverlust durch Inflation führte.
    Nach dem Krieg gingen die staatlichen Ansprüche wieder zurück, sanken aber nie mehr auf ihr früheres Niveau, da viele verzögerte, langfristige Versorgungsansprüche für invalide Soldaten oder die Familien Gefallener bestehen blieben. Die Weltwirtschaftskrise erzwang die Ausweitung der Arbeitslosenunterstützung, sodass die westlichen Staaten Ende der 1930er Jahre vermutlich ein Viertel des BIP ausgaben, und als Deutschland 1936 dramatisch aufzurüsten begann, Japan vielleicht sogar noch ein wenig früher, Frankreich und Großbritannien 1938 und die USA 1940, stieg dieser Anteil weiter an. Etwa Mitte des Zweiten Weltkriegs gaben die USA vermutlich 45 Prozent aus, Russland und Deutschland sogar über 50 Prozent, und davon floss der größte Teil in Militär- und kriegsbedingte Ausgaben. Nach Kriegsende sank der Staatsanteil wieder, auch wenn Großbritannien die Kriege in den Kolonien teuer zu stehen kamen. Die USA halfen bei der Finanzierung der französischen Kämpfe, doch Ende der 1960er und in den 1970er Jahren ließen die Ausweitung von Sozialprogrammen und Wohlfahrtsstaaten sowie eine breitere Universitätsbildung die Anteile ein drittes Mal ansteigen, auf bis zu 50 Prozent oder leicht darüber in Westdeutschland, den Niederlanden und Skandinavien. Nunmehr wurde das Geld allerdings in erster Linie für soziale Wohlfahrt und Transferzahlungen ausgegeben, während der Anteil des Militärs an den nationalen Haushalten in den meisten Ländern auf unter fünf Prozent sank. Gewisse Ausgabenkürzungen haben in den 1980er Jahren dafür gesorgt, dass sich die Staatsquote auf einem Niveau zwischen 40 und 50 Prozent eingependelt hat. Die USA mit einem kleineren staatlichen Sektor geben auf allen Regierungsebenen zusammen vermutlich ein Drittel ihres Volkseinkommens aus. Der renormalisierte Wohlfahrtsstaat bleibt

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