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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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entwickelten Systeme der Eigenversicherung. Einige Staaten wie etwa Preußen übernahmen eine aktivere Rolle; andere überließen die Unterstützung den Familien, den Kirchen und verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen. Der Amerikanische Bürgerkrieg und der Erste Weltkrieg hinterließen so viele invalide Veteranen und Witwen, dass nationale Reaktionen auf deren soziale Bedürfnisse zwingend geboten waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die reformistische Linke in Europa versucht, diesen Projekten ihren Stempel aufzudrücken, ob im Programm der britischen Liberalen zwischen 1906 und 1914, in der Politik der sozialdemokratischen Koalitionen im Schweden der 1930er Jahre oder in den Maßnahmen auf nationaler – also landesweiter und nicht bundesstaatlicher – Ebene, die ein Kernstück des amerikanischen New Deal waren.
    Ausgehend von diesem Stückwerk war es ein Leichtes, sich Staaten vorzustellen, die in umfassendem Maße Mindeststandards in Sachen Einkommen und Versicherungsschutz gegen die sozialen Risiken von Arbeitslosigkeit, Alter und (zumindest außerhalb der USA) Krankheit garantierten. Von dieser Agenda war der Bericht geprägt, den der Sozialreformer William Beveridge während des Zweiten Weltkriegs vorlegte und der ein Konzept der Unterstützung «von der Wiege bis zur Bahre» entwarf, welches die Armut überwinden und den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sicherstellen sollte. Aus diesen Erfahrungen sollte dann der Sozialstaat entstehen: die allgemein anerkannte Mischung aus Privateigentum in der Wirtschaft und sozialen Garantien, welche die Politik bestimmte, nachdem der Frieden 1945 nach Europa zurückgekehrt war.
    Im Laufe seiner Entwicklung konvergierte der Sozialstaat tendenziell mit anderen Gegenmitteln gegen die wirtschaftliche Not und vielleicht auch die wirtschaftliche Ungleichheit, die mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre akut geworden waren. Er sollte Sozialvereinbarungen zwischen den Gewerkschaften und den Vertretern der Industrie überwachen – diese Initiative hatte während des Ersten Weltkriegs Gestalt angenommen, war durch die faschistischen Regierungen und die Besatzungsregime im Zweiten Weltkrieg verbindlich geworden und entwickelte sich nun zu einer ganz normalen politischen Aktivität. Ideen nationaler Wirtschaftsplanung waren in den 1930er Jahren bei der Linken populär geworden und hatten sich während des Krieges im Bereich der Industrie zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt, bei den Briten oder Amerikanern nicht anders als bei den Deutschen. Nach dem Krieg richtete Frankreich das «Commissariat au plan» ein, ein Planungsamt, an dessen Spitze Jean Monnet stand. Es war nicht im Besitz der betreffenden Firmen, sondern entwickelte Modernisierungsprogramme für die Wirtschaft, die vor allem auf strategische Kapitalanreize setzten. Der Staat, so forderte die demokratische und sozialdemokratische Linke in Westeuropa, solle die Schlüsselindustrien selbst betreiben: mit Sicherheit die Notenbanken, wahrscheinlich auch die Eisenbahnen (die französische Volksfront hatte das Eisenbahnnetz des Landes verstaatlicht) und vielleicht den Bergbau. In Punkt IV ihres Parteiprogramms von 1918 hatte die britische Labour Party gefordert, der Staat müsse die «Kommandohöhen der Wirtschaft» besetzen; als sie dann 1945 an die Macht kam, verstaatlichte sie die Stahlindustrie, das Eisenbahnsystem, das Transportwesen sowie die Kohlegruben und richtete 1948 einen National Health Service ein.
    All diese Maßnahmen verbanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg am ehesten mit der demokratischen und sozialdemokratischen Linken. Gewerkschaften und linke Parteien hatten durch den moralischen und kämpferischen Beitrag, den sie zum Sieg über den Faschismus geleistet hatten, ein entscheidendes Mitspracherecht in politischen Dingen erlangt. Konservative Widersacher waren aufgrund ihrer Rolle in kollaborierenden Regimen oftmals an den Rand gedrängt. Doch auch Konservative betrieben oder erbten nicht selten eine ganz ähnliche Politik und verfolgten eine paternalistische Ideologie des sozialen Schutzes. Die führende französische Sozialstaatsinitiative in Sachen Unterstützung für Familien war aus Konzepten der katholischen Kirche und der Arbeitgeber für regionale oder berufsspezifische «caisses» hervorgegangen. Die deutschen Christdemokraten vertraten ordoliberale Konzepte, die vorsahen, wettbewerbsorientierte Industrien und Branchen in eine allgemeinere Sozialordnung einzubetten,

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