Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
einer Gesellschaft mit spezifischen Räumen in einer anderen, rund um den Globus. Familienökonomien mögen daher Individuen und beschränkende Rahmen mit Chancenstrukturen an verschiedenen Orten auf mehreren Kontinenten/in mehreren Makroregionen verbinden. Eine südchinesische Kleinbauernfamilie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mag daher eine zweite Basis an der Pazifikküste Kanadas errichten und sich vielleicht in Städte weiter im Inland verzweigen. Menschen suchten Optionen auf der Basis von Informationen, die von zuverlässigen Mitgliedern ihres Netzwerks an Zielorten, zu denen Reisemöglichkeiten bestanden, bereitgestellt wurden. Nur in den übersteigerten Mythologien einiger Staaten griffen sie nach «unbegrenzten Möglichkeiten».[ 44 ]
Eine Typologie von Migrationen
Sowohl die Alltagssprache als auch wissenschaftliche Terminologien neigen dazu, verschiedene Migrationen unter undifferenzierten, oftmals implizit bewertenden Sammelbegriffen zusammenzufassen. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in den neo-europäischen Gebieten war unter den Migranten – und in der Literatur über sie – die Ansicht weit verbreitet, dass sie hartgesottene Männer seien (die genauso robusten Frauen wurden nicht erwähnt), die vermeintlich jungfräuliche Regionen besiedelten und das Land an Generationen von Kindern weitergaben: weißhäutige Europäer, die Urwälder und Prärien/Grasland urbar machten. Die älteren ortsansässigen Bewohner hatten andere Sichtweisen von solchen Vorstößen, die sie oftmals zu Flüchtlingen machten. Die Bezeichnung «proletarische Massenmigration» für die Jahrzehnte der atlantischen Welt von den 1870er Jahren bis 1914 impliziert, dass alle Migranten städtische Arbeiter waren.
Ein umfassender Ansatz analysiert die Entscheidungen und die Routen von Migranten – innerhalb institutioneller Rahmen – innerhalb eines Spektrums von frei bis gezwungen, von lokal bis interkontinental, von saisonal bis dauerhaft sowie hinsichtlich des Spektrums an Plänen, die am Migrationsziel verwirklicht werden sollen. Innerhalb jedes Typs ist eine Geschlechterdifferenzierung notwendig: Männern und Frauen werden verschiedene Rollen zugeschrieben, sie haben verschiedene Erfahrungen und verschiedene Ziele. Intergenerationale Aspekte müssen ebenfalls einbezogen werden. Eine Klassifikation entlang der Achsen «frei-unfrei» oder «selbstbestimmt-gebunden» ergibt folgende Kategorien:
– freie Migranten, die gemäß ihren eigenen Wünschen und Lebensprojekten auf der Basis vertrauenswürdiger Informationen, die innerhalb der von Gesellschaften und Staaten auferlegten Rahmen verfügbar sind, entscheiden, wann und wohin sie ziehen;
– Arbeitsmigranten, die «freien» transatlantischen Migranten und die der Süd-Nord-Wanderungen des späten 19. und des späten 20. Jahrhunderts, die jedoch unter oftmals schwerwiegenden ökonomischen Einschränkungen leben und daher beschließen, unter Zwang «selbstbestimmt» fortzugehen;
– gebundene Arbeitsmigranten, die ihre Arbeitskraft wegen Armut für einige Jahre verkaufen müssen (europäische und asiatische Schuldknechte und Credit-Ticket-Migranten);
– Zwangsarbeitsmigranten, die für niedere Arbeiten lebenslang versklavt werden (Afrikaner in der atlantischen Welt), die für Dienstleistungen oder geistige Arbeit versklavt werden (Afrikaner in der Welt des Indischen Ozeans und Menschen anderswo), die für eine gewisse Zeit ihres Lebens gegen ihren Willen gebunden sind (Südafrika unter der Apartheid) oder die gewaltsam eingepfercht und auf unbestimmte Zeit interniert werden (NS-Deutschland, das imperialistische Japan, die stalinistische Sowjetunion);
– unfreiwillige Migranten, die durch politische Intoleranz (Exilanten), religiöse Intoleranz (Glaubensflüchtlinge) oder durch andere Ursachen wie ethnokulturelle oder geschlechtsbasierte Ungleichheiten vertrieben werden;
– Kriegsflüchtlinge und Personen, die vor anderen Formen von Gewalt fliehen;
– Personen, die durch natürliche oder menschen- (genauer: männer- )gemachte ökologische Katastrophen vertrieben werden.[ 45 ]
Transatlantische und transpazifische Migranten an der Wende zum 20. Jahrhundert – wie auch Migranten, die an der Wende zum 21. Jahrhundert aus der Dritten in die Erste Welt wandern – trafen und treffen ihre «freien» Entscheidungen unter den Zwängen ökonomischer Rahmenbedingungen , die keinen Raum für Lebensprojekte oder sogar das bloße Überleben bieten. Ihre «Heimat» mag eine
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