Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
bildeten – gemeinsam mit freien Passagier-Migranten – an ihren Zielgebieten Gemeinschaften – ob Inder in Natal und der Karibik oder Chinesen in Malaya und in Nord- und Südamerika. Bei den atlantischen Migrationen waren zwei Fünftel der Migranten Frauen; nach 1930 stellten Frauen etwas mehr als 50 Prozent. Bei den Migrationen im Raum des Indischen Ozeans, im Ost- und Südostasiatischen Meer war ihr Anteil niedriger. Doch wenn Männer beschlossen, zu bleiben und Gemeinden zu gründen, und wenn sie, aufgrund rassischer und ethnischer Hierarchisierungen, Frauen aus den ortsansässigen kulturellen Gruppen nicht heiraten durften, erhöhte die Heiratsmigration den Anteil von Frauen, und durch transozeanische Korrespondenz begannen Familien zu entstehen.[ 46 ]
In den 75 Jahren zwischen 1870 und 1945 blieben die zwischenstaatlichen agrarischen Siedlungswanderungen begrenzt; das Gros der Fernwanderungen entfiel auf zwischenstaatliche gebundene und freie Arbeitsmigrationen; die Migration von Akademikern war zahlenmäßig gering. Inner staatliche Wanderungen im Zusammenhang mit der Verstädterung und Industrialisierung hatten ein viel größeres Volumen als zwischen staatliche. In vielen Städten quer durch die verstädternden Segmente des Globus war über die Hälfte der Bevölkerung nicht dort geboren worden. Die Wanderungen weißer Männer (und einiger Frauen) aus Europa in die kolonisierten Zone der Erde waren zwar zahlenmäßig gering, aber äußerst wirkungsmächtig. Ihre bewaffnete politische und ökonomische Herrschaft führte zu einer Intensivierung der kolonialen Durchdringung und einer Mobilisierung nicht-weißer Arbeiter und Arbeiterinnen für die Pflanzungen und Bergwerke in den subtropischen und tropischen Regionen der Erde.
Ein systemischer Erklärungsansatz
für Migrationen
Um die Komplexität der Handlungsfähigkeit von Migranten und Migrantinnen innerhalb von lokalen und gesamtgesellschaftlichen Rahmen sowie auf ihren Wanderrouten zwischen Gesellschaften zu verstehen, haben Historiker einen systemischen Ansatz entwickelt. Dieser umfassende theoretisch-methodische Rahmen schließt kausale und zufällige Faktoren und Ergebnisse sowie mehrere Rationalitätstypen ein. Er verknüpft insbesondere Migrationsmuster und -entscheidungen in Bezug auf: 1) die Ausgangsgesellschaft in lokalen, regionalen, landesweiten und globalen Rahmen; 2) die tatsächliche Wanderungsstrecke in Anbetracht der zeitgenössischen Transport- und Kommunikationsmittel; 3) die Zielgesellschaft(en) in mikro-, meso- und makroregionaler Perspektive; 4) die Verbindungen zwischen Gemeinden, in denen Migranten einen Teil ihres Lebens verbringen oder verbracht haben. Sein interdisziplinärer und transkultureller Charakter erlaubt Analysen der Strukturen und Institutionen – die sich fortwährend weiterentwickeln und daher prozessuale Strukturen und strukturierte Prozesse genannt werden könnten. Außerdem erlaubt er die analytische Einbeziehung der diskursiven Migrationsrahmen in die Ausgangs- und Zielgesellschaften in ihren besonderen lokalen oder regionalen Varianten. Er befasst sich mit sämtlichen Aspekten einschließlich Industrialisierung, Verstädterung, sozialer Schichtung, Geschlechterrollen und Familienökonomien, demographischen Merkmalen, politischer Lage und Entwicklungen, Bildungsinstitutionen, religiösen oder anderweitigen Glaubenssystemen, ethnokultureller Zusammensetzung und Traditionen von Kurz- und Fernwanderungen. Der Ansatz betont die gelebte Kultur und verdeutlicht, wie die miteinander verbundenen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und technologischen Kräfte in ihrem Zusammenwirken den kulturellen Habitus (P. Bourdieu) und die gesamte Lebensweise (R. Williams) von Migranten prägen.[ 47 ] Der systemische Ansatz analysiert die Umformung von Gesellschaften innerhalb der globalen Hierarchie von Herrschaft, Abhängigkeit und Entwicklung. Gesellschaften und Volkswirtschaften wurden und werden weltweit durch Familien verbunden, deren Mitglieder über mehrere Länder verteilt sind.
Der systemische Ansatz analysiert die Auswirkungen der Abwanderung auf Familien und Ausgangsgesellschaften und der Einwanderung auf aufnehmende Gesellschaften und spezifische Gemeinschaften. Was bedeutete Abwanderung für landwirtschaftlich geprägte Dörfer, ganz Agrarregionen oder Stadtviertel in China oder in Europa? Die Abwanderungsentscheidungen von Millionen von Männern und Frauen verändern Ausgangsgemeinden und -gesellschaften
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