Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
Vom Netzwerk:
Anpassung ermöglichte. Reiseerfahrungen und emotionale Bewältigung schwanken von Person zu Person. Um die Migranten abverlangten Fähigkeiten zu ermessen, müssen wir uns bewusst machen, dass viele Auswanderer im 19. Jahrhundert noch nie einen Zug oder ein Schiff gesehen hatten, ehe sie in einen oder eines einstiegen. In zeitgenössischen Schilderungen spiegeln sich sowohl unbekümmerte Zuversicht wie auch große Unsicherheit. Seit der Verhängung von Zuwanderungsbeschränkungen waren Aufnahmeverfahren von Zurückweisungsängsten überschattet. Selbst die US-amerikanischen Regularien, die für Migranten aus Asien bis zur Mitte der 1870er Jahre und für Zuwanderer aus Europa bis 1917 liberal waren, waren aufgrund häufiger administrativer Veränderungen, einem Mangel an präzisen Informationen und gelegentlicher willkürlicher Behandlung schwer einzuschätzen. Diese Vorschriften hatten geschlechtsspezifische Auswirkungen: Frauen waren stärkeren administrativen Schikanen ausgesetzt als Männer.
    Migranten leben und entscheiden, sofern sie nicht fremdbestimmt sind, an beiden Enden ihrer Reiseroute eigenverantwortlich, sie vergleichen die Arbeitsmärkte und andere existenzsichernde Optionen. Sie entscheiden sich für aus ihrer Sicht erweiterte Optionen an einem Ort, der mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln erreichbar ist und wo sie erwarten, in ihrer Sprache kommunizieren zu können. Weit mehr als über einen Ozean zog es Migranten in eine nahegelegene Stadt oder in ein Bergwerk, eine Plantage oder wo sie sonst Arbeit fanden. Die interkontinentalen Verbindungen führten sie in Gemeinschaften vorhergehender Migranten gleicher Sprache. Volkswirtschaften mit Arbeitskräftebedarf als Zielgebiete müssen für die Periode des Imperialismus – wie für andere Perioden – in die globalen und mesoregionalen Hierarchien politischer und ökonomischer Machtbeziehungen eingeordnet werden. Die soziopolitischen Ordnungsrahmen der aufnehmenden Gesellschaften müssen genauso umfassend analysiert werden wie die der Ausgangsgesellschaften.[ 48 ]
    Nationale Identitäten, soziale
Zugehörigkeiten, Identifikationen
    Wenn Migranten sich nicht in erster Linie mit Staaten mit territorialen Grenzen oder Nationen mit kulturellen Grenzen identifizieren, müssen zwei Fragen beantwortet werden: Weshalb war ein nationalstaatlicher Ansatz in der Migrationsgeschichte so vorherrschend? Weshalb klassifizieren aufnehmende Gesellschaften Migranten nach ihrer nationalen Herkunft? Staaten wirken auf die Forschung ein, da sie Mobilitätsdaten erheben, aber oftmals nur an internationalen Grenzen und nicht über Binnenmigrationen. Solche Daten werfen Menschen verschiedener Regionen, Dialekte und sozialer Eigenschaften in einen Topf, fassen Menschen aus Mehrheits- mit denen von Minderheitskulturen zusammen, und weisen Frauen oftmals nicht getrennt aus. So wichtig diese Daten auch sind, liefern sie doch nur ein verzerrtes Bild der Zusammensetzung der Migranten und der Gesamtmobilität. Wissenschaftler, die von Nationalstaaten erhobene Daten nutzen, verwenden notwendigerweise für die von ihnen analysierten Menschen auch nationalstaatliche Terminologien. Im öffentlichen Diskurs in aufnehmenden Gesellschaften ist die Vielfalt der Kulturen innerhalb der Ursprungsstaaten für gewöhnlich nicht bekannt: Migranten und Migrantinnen aus Indien werden zu typischen «Hindus», diejenigen aus einer bestimmten Region in China zu typischen «Chinesen» und deutschsprachige Migranten aus den vielen verschiedenen Regionen typische «Deutsche» oder, fehlbenannt, «Dutch». Solche Benennungen implizieren die Zuschreibung nationaler Identitäten. Dies entstand im Meinungsklima des 19. Jahrhunderts: zunächst bildete sich, im Gegensatz zu den status-zentrierten Kulturen und dynastischen Interessen des Adels, ein (bürgerliches) nationales kulturelles Denken heraus; vollzog sich dann in den nationalen Revolutionen von 1848/49 die Selbstorganisation der Mittelschicht, breiteten sich am Ende des 19. Jahrhunderts aggressive nationale Chauvinismen aus. Nationale Deskriptoren werden weiter kompliziert durch die Entwicklung von russischen, deutschen, österreichischen und englischen Deskriptoren innerhalb multiethnischer Imperien. In den kolonisierten Regionen werden die Dichotomien «Kolonist-Kolonisierter» beziehungsweise «weiß-farbig» zu den entscheidenden Demarkationslinien.
    In vielen Publikationen wurde das Nationalbewusstsein des frühen 19. Jahrhunderts, der

Weitere Kostenlose Bücher