Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
können.
Periodisierung des Zeitraums 1870–1945
Jeder Versuch, ein Stück der historischen Zeit herauszugreifen und zu segmentieren, stößt auf ebenso viele Einwände wie Rechtfertigungen. Dieser Band präsentiert deshalb die Jahre zwischen 1870 und 1945 als eigenständigen Zeitraum, während gleichzeitig die einzelnen Kapitel Beginn und Ende dieser Periode sowie wichtige Wendepunkte flexibel handhaben. So blickt der Beitrag von Charles S. Maier mehrere Jahrzehnte, ja, ein ganzes Jahrhundert in die Zeit vor 1870 zurück, um den Bogen moderner Staatlichkeit erfassen zu können, der in unserem Zeitraum einen Gipfelpunkt erreichte. Auch Dirk Hoerders Kapitel beginnt mit einem umfassenden Prolog über die grundlegenden demographischen Entwicklungen und die Veränderungen von Zugehörigkeitsdefinitionen, die vor 1870 stattfanden und Vorboten der großen Migrationsbewegungen waren, die sich in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beschleunigten. Ganz ähnlich gehen Steven C. Topik und Allen Wells davon aus, dass die zweite industrielle Revolution durch die erste industrielle Revolution beeinflusst und bedingt war. Jeder unserer Themenschwerpunkte weist somit eine eigene Zeitschiene auf.
Überdies präsentieren die einzelnen Kapitel ihre Themen im Rahmen unterschiedlicher Periodisierungsvorstellungen, da bestimmte chronologische Meilensteine und Trends nur für den jeweiligen thematischen Entwicklungsverlauf relevant sind. So vertritt etwa Dirk Hoerder die These, der Zweite Weltkrieg markiere einen grundsätzlichen Wandel der Einwanderungsmuster, nämlich von den großen, arbeitsmarktbedingten Migrationsbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu den Flüchtlingsströmen, die mit den beinahe unvorstellbaren Verwerfungen dieses globalen Konflikts verbunden waren. Tony Ballantyne und Antoinette Burton wenden sich, auf einem anderen Themenfeld, gegen die gängige Auffassung, der Zweite Weltkrieg bilde die Trennlinie zwischen einem «imperialen» und einem «antiimperialen» Zeitalter. Sie vertreten vielmehr die Ansicht, der Antiimperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg, wie er beispielsweise in der Konferenz von Bandung 1955 zum Ausdruck kam, müsse vor dem Hintergrund einer Vorgeschichte gesehen werden, in der Imperialpolitik und antiimperiale Netzwerke gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlicher Macht Gestalt annahmen. Mein eigener Beitrag stützt die vertraute These, der Erste Weltkrieg habe die Visionen einiger Internationalisten des späten 19. Jahrhunderts erschüttert, als alte Imperien zerfielen und Kommunismus und Faschismus die Ausbreitung liberaler Republiken in Frage stellten. Er zeigt jedoch auch, dass sich die Ausweitung transnationaler Netzwerke in Wissenschaft, Gesundheitswesen, Unterhaltung und auf einer Vielzahl anderer spezifischer Felder nach dem Ersten Weltkrieg beschleunigte. In vielen Bereichen fungierte «the Great War» somit nicht als Wendepunkt, der einen entscheidenden Rückschritt im transnationalen network building markiert. In den Augen von Steven C. Topik und Allen Wells haben Kriege und ökonomische Ereignisse die Warenströme mitunter verändert. Doch neue Erfindungen, Saatgutimporte und Klimaeffekte konnten gleichermaßen dramatische Verschiebungen auslösen. Kurz: Der chronologische Rahmen des einen Themas muss in anderen Zusammenhängen möglicherweise verändert werden.
Auf den ersten Blick könnte es den Anschein haben, als würde unsere thematische Vorgehensweise Schlüsselereignisse von globaler Bedeutung innerhalb der traditionellen Periodisierung dieser Epoche herunterspielen. So gibt es beispielsweise keine Kapitelüberschriften wie «Die Burenkriege», «Der russisch-japanische Krieg», «Der Erste Weltkrieg», «Die Weltwirtschaftskrise» oder «Der Zweite Weltkrieg». Der aufmerksame Leser jedoch wird in den einzelnen Kapiteln mit Sicherheit wichtige Wegmarken wie globale Kriege und Wirtschaftskrisen finden, allerdings werden sie in ihrer jeweiligen Relevanz für unsere fünf Themenfelder behandelt. Und dadurch, dass solche traditionellen Wegmarken in vielfältigen Kontexten auftauchen, fällt die Gesamtgeschichte der Zeit zwischen 1870 und 1945 reichhaltiger und vielschichtiger aus. Keine Periodisierung oder Strukturierung kann die Vergangenheit zur Gänze erfassen. Geschichtsschreibung ist ein Abbild, keine exakte Nachbildung des Gewesenen, und die Notwendigkeit des Auswählens bedeutet, dass jede Rahmenstruktur unvermeidlich einige Elemente
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