Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
warfen. Als diese englischsprachige Welt boomte, erleichterten neue Formen von Banken, Unternehmensgesellschaften, Krediten und Eigentumsschutz internationale Investitionen, während gleichzeitig liberale Ideologien neue Möglichkeiten eröffneten. Die große Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre traf natürlich die kapitalistischen Zentren Europas, schwappte in die früheren und noch bestehenden Kolonien und stärkte diejenigen, die den europäisch-amerikanischen Liberalismus in Frage stellten. Doch weder der Zweite Weltkrieg noch die weltweit aufkommenden antikolonialen Bewegungen kehrten das grundsätzliche Divergenzschema um.
In jüngster Zeit haben Wissenschaftler die Zusammenhänge zwischen Liberalismus und europäischem Imperialismus untersucht und gezeigt, auf welch vielfältige Weise Tugendhaftigkeit und Eigeninteresse im Rahmen eines Fortschrittsdiskurses miteinander versöhnt wurden. Wie unter anderem Jürgen Osterhammel und Michael Adas betonen, war der uns interessierende Zeitraum einer, in dem die «Zivilisierungsmission» des Westens mittels Zwang und Zustimmung hegemonial wurde. Solche Zivilisierungsmissionen – also die Versuche, die eigene kulturelle Position und Haltung universell geltend zu machen – gab es in der Geschichte natürlich schon seit Jahrhunderten, doch im hier interessierenden Zeitraum trieben die Europäer diese Mission besonders selbstgewiss voran. Wie Jürgen Osterhammel gezeigt hat, verglich sich Europa im 18. Jahrhundert häufig mit Asien; im 19. Jahrhundert hingegen hielt sich Europa für unvergleichlich. Unsere Kapitel berücksichtigen, dass diese Forschungsarbeiten den ökonomischen, politischen und kulturellen Aufstieg Europas in ein neues Licht rücken.[ 2 ]
Als die Eliten im Westen jedoch bestimmte Netzwerke dominierten, indem sie neue Ressourcen ausbeuteten, Mechanismen entwickelten, um Kapital zu «hebeln», und eine vorherbestimmte zivilisatorische Mission verkündeten, taten sie das im Rahmen interaktiver Beziehungen. Die Kapitel dieses Bandes folgen in dieser Hinsicht der jüngsten Forschung: Sie begreifen das Terrain der Welt nicht als eines, das von einer einzigen Region aus ausstrahlte, sondern betrachten es durch die Vielzahl an sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Austauschprozessen und Netzwerken, welche die Menschen miteinander verbanden (oder auch nicht). Insofern schließt sich dieses Buch denjenigen an, die der Auffassung sind, allein schon die Idee einer Weltgeschichte widerspreche jeder statischen Geographie des Ortes und sei zu ersetzen durch eine Geographie der Zusammenhänge. Wie Christopher A. Bayly in seinem einflussreichen Buch Die Geburt der modernen Welt behauptet, kann man die Welt in dieser Epoche «als einen Komplex sich überschneidender Netzwerke von globaler Reichweite […] beschreiben, während man gleichzeitig die ihnen innewohnenden, gewaltigen Machtunterschiede anerkennt». Europäer konnten sich oftmals bestehende Netzwerke «gefügig» machen, doch es «war der parasitäre und ‹vernetzte› Charakter westlicher Vorherrschaft und Macht, der dieser eine solche Stärke verlieh. Der Westen verband eine große Vielfalt brauchbarer Netzwerke und Bestrebungen miteinander und machte sie sich zunutze.» Kurz gesagt: Die wachsende Bedeutung des Westens in diesem Zeitraum lässt sich offenbar am besten im Kontext einer Vielzahl interaktiver Netzwerke begreifen, in denen sowohl globale Uniformitäten als auch lokale Diversitäten Gestalt annahmen.[ 3 ] Der Beitrag von Ballantyne und Burton vertieft diese Sichtweise und verschafft der Situation der «imperialen Globalität» ein theoretisches Fundament.
Globale Interaktionen mögen in dieser Zeit den Westen gestärkt haben, aber sie gingen mit Sicherheit nicht alle von dort aus, und die globale Vernetzung sorgte sowohl für Homogenität wie auch für Differenzierung. Wie Antony G. Hopkins betont hat, bedingten sich das Globale und das Lokale – das selbststilisierte Universelle und das Partikulare – oftmals wechselseitig und existierten in Mischformen nebeneinander, die je nach Zeit, Ort und Umständen unterschiedlich ausfielen.[ 4 ]
In den letzten Jahrzehnten hatten mehrere theoretische Diskussionen Anteil daran, dass sich die Geschichtswissenschaft vom Eurozentrismus verabschiedet und einer multizentrischen, vernetzten Perspektive zugewandt hat. So haben zum Beispiel die Theorie des Postkolonialismus, die Geschlechterforschung und die subaltern studies wichtige Fragen
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