Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
militärischen Entscheidungen, die sich daraus ergaben.
Angesichts der vielfältigen Erfahrungen, auf die sich die Rede von einer Revolution oder Modernisierung von oben beziehen kann, bevorzuge ich den sehr locker gefassten Begriff der kontrollierten Transformation: ein Prozess, in dem eine Gruppe ambitionierter und mächtiger Personen, ob nun in politischen Führungspositionen oder wirtschaftlich mächtig oder oftmals beides, versuchte, die Politik auf eine dynamischere nationale Entwicklung auszurichten. Sie konnten dies innerhalb des Gehäuses alter Reiche versuchen (wo sie auf heftigen Widerstand von konservativer Seite stießen) oder auf der regulativen Basis von Wahlen durch das Volk. Ohne die neuen Möglichkeiten, die Eisenbahn, Kommunikationsmittel und Schnellfeuerwaffen boten, hätten ihre Chancen weniger günstig gestanden. Ohne die verbreitete Überzeugung von der Unausweichlichkeit oder gar der «reinigenden Funktion» (wie es ein italienischer Imperialist formulierte) militärischer Konflikte hätten sie ebenfalls eine weniger auffällige Rolle gespielt. Und natürlich verstärkten sie die aufgeladene Stimmung von Krieg und Industrialisierung, die ihre Politik so notwendig und natürlich erscheinen ließ. Bismarck hatte Recht: Die großen Fragen der Zeit mussten mittels Blut und Eisen gelöst werden – und von starken und entschlossenen Strategen, wie er selbst einer war.
In der Mitte Europas
Tatsächlich hatte der amerikanische Süden gewisse Ähnlichkeiten mit den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen Mitteleuropas vor den entscheidenden Transformationen, insbesondere mit dem Königreich Ungarn, das in etwa die Hälfte der Habsburgermonarchie bildete. Dieses Imperium stützte sich auf zwei dominante nationale Gruppen: den deutschsprachigen Westen, zu dem damals das heutige Österreich sowie Böhmen und Mähren (heute die Tschechische Republik) gehörten, und im Osten, im Königreich Ungarn, die ungarischsprachige Klasse der Grundherren, die ein großes ländliches Gebiet mittels eines Komitatsystems mit regionaler Verwaltung regierte und sich nicht sonderlich von der Klasse der Plantagenbesitzer im Süden Amerikas unterschied. Statt schwarzer Sklaven bedienten sich die Magyaren slawischer Arbeitskräfte – Ukrainer, Polen, Slowaken –, die bis 1848 Leibeigene waren. Selbst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Leibeigenschaft formal abgeschafft war, konstruierten sie ein Wahlsystem, das sicherstellte, dass die Slawen und Rumänen keine wirkliche politische Macht bekamen. Geographisch umfasste das Königreich Ungarn die heutige Slowakei, den Westen Rumäniens und das heutige Kroatien. Außerhalb des Königreichs und ihres österreichisch-böhmischen Kernlands regierte die Dynastie auch in der Lombardei mit ihrer Hauptstadt Mailand und in der Toskana sowie zwischen 1797 und 1866 in Venedig und dessen Hinterland. Im Nordosten herrschten die Habsburger über das heutige Slowenien und jenseits der Karpaten über das Tiefland im Süden Polens (oder Galizien) mit der Stadt Lemberg (dem heutigen ukrainischen Lwiw), das man sich im Zuge der polnischen Teilungen gesichert hatte, und sogar über die Gegend um Czernowitz, die den Osmanen entrissen worden war. Als die Überreste des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auf Druck Napoleons aufgelöst worden waren, hatten die Habsburger ihre verschiedenen Territorien als Kaisertum Österreich neu konstituiert, das kein einheitliches Territorium bildete, sondern verschiedene konstitutionelle Ausgestaltungen aufwies. Insgesamt gab es in etwa zehn verschiedene Sprachgebiete, die dichte jiddischsprachige jüdische Bevölkerung in Galizien nicht mitgerechnet. Zwischen damals und 1945 sollten die Juden auswandern oder im Zuge des Holocaust umkommen, die drei Millionen Deutschen in Böhmen und Mähren sollten am Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben werden, nicht anders als Millionen Menschen aus den Ostgebieten Preußens weiter im Norden. Doch schon früher kam es zu größeren Gebiets- und Grenzverschiebungen, Ende der 1860er Jahre ebenso wie am Ende des Ersten Weltkriegs 1918/19.
Das Habsburgerreich umfasste somit zahlreiche Sprachgruppen. Diese sollten zunehmend Gefallen am Nationalismus finden, also an der Vorstellung, dass sie jeweils ihre eigenen Gemeinschaften in einem Nationalstaat regierten. Zumindest waren ihre geistigen und politischen Führer dieser Überzeugung. Tatsächlich sprach ein Großteil der Bevölkerung zwei
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