Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
wurde. Doch das Ferment aus Ideen und Diskussionen sollte als Risorgimento bekannt werden. Giuseppe Mazzini, Schriftsteller im Exil und Verfechter einer italienischen Republik, wurde zum politischen Vorkämpfer der Einigung Italiens. Nationalismus galt zunehmend als chic: Britische Romantiker schrieben Gedichte auf den griechischen Aufstand der 1820er Jahre. Die Polen zeigten ebenfalls nationale Bestrebungen, und schon bald auch die tschechisch sprechenden Intellektuellen in Böhmen sowie verschiedene südslawische Gruppen. Sie unterstanden jedoch direkterer habsburgischer Kontrolle. Der deutsche Nationalismus konnte wegen der Divergenz zwischen Preußen und Österreich und wegen der wachsenden Attraktivität des Nationalismus für die Eliten der anderen deutschen Staaten so prächtig gedeihen. Wie aber konnte man die nationale Einigung erreichen? 1848/49 hatten es die Revolutionäre versucht und waren gescheitert. Die soziale Umwälzung der Aufstände in Italien, Mitteleuropa und Frankreich entfremdete schon bald die gesellschaftlich seriösen Mittelschichten, welche die Bewegung anfangs unterstützt hatten. Zudem fing sich der habsburgische Hof wieder, und seine Generäle schlugen die Rebellionen in verschiedenen Städten (Wien, Prag, Budapest und Venedig) nacheinander nieder. Der junge König von Sardinien (so die offizielle Staatsbezeichnung für das Piemont, das nach der herrschenden Dynastie auch Savoyen hieß), der sich der Sache verschrieben hatte, wurde zweimal besiegt, zum ersten Mal 1848 und dann noch einmal ein Jahr später. Als die ungarischen Revolutionäre 1849 erneut zu den Waffen griffen, intervenierten die Truppen des Zaren bereitwillig, und ihr Anführer Lajos Kossuth musste fliehen. Die römische Revolution, in der Mazzini als einer der «Triumvirn» fungierte, versetzte den Papst in Angst und Schrecken und sollte durch den frisch gewählten Präsidenten der französischen Republik, Louis Napoleon, erstickt werden. Die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche konnte die schwierige Frage der mitteleuropäischen Organisation nicht lösen: Die wieder erstarkten konservativen Kräfte in Österreich, angeführt von dem Hardliner Fürst Schwarzenberg, teilten den Liberalen in Frankfurt brüsk mit, Österreich werde einem deutschen Bundesstaat nur mit all seinen Territorien beitreten (also auch den ungarischen und polnischen Gebieten) oder gar nicht. Als dem preußischen Monarchen die kleindeutsche Alternative vorgeschlagen wurde, weigerte er sich, die Habsburger zu brüskieren und eine Krone anzunehmen, die der Zustimmung durch das Volk bedurfte. Die nationalistischen und revolutionären Heißsporne von 1848 waren nach ihrer zweiten Aufstandswelle 1849 zerstreut und geschlagen.
Doch sie gaben nur ein Jahrzehnt lang Ruhe. In den 1850er Jahren geriet Mitteleuropa erneut in Bewegung. Zuallererst kamen die Volkswirtschaften wieder kräftig auf die Beine: Der Eisenbahnbau und die industrielle Entwicklung machten in Preußen und in Frankreich ähnlich wie auf dem amerikanischen Kontinent enorme Fortschritte. Selbst das preußische Königshaus war bereit, eine nachdrücklichere Politik zu betreiben. Der Zar legte in den Jahren 1850/51 sein Veto ein gegen frühe Pläne für einen norddeutschen Staatenbund unter preußischer Führung, denn ein solcher barg seiner Ansicht nach zu viel Unruhepotential; St. Petersburg wollte Österreichs konservative Präsenz in Mitteleuropa nicht unterminieren. Doch innerhalb Preußens machten der Zollverein und der Eisenbahnbau Fortschritte; und seit 1848 gab es auch eine preußische Nationalversammlung, die Liberalen aus der Mittelschicht ein Forum bot. Im Piemont mit seiner Hauptstadt Turin war der neue Monarch bereit, sich von dem altbackenen klerikalen Konservatismus früherer Jahrzehnte zu verabschieden, und unter der Verfassung von 1848 versuchte eine tatkräftige liberale Elite unter Führung des Grafen Camillo Cavour, die britische Parlamentspraxis und den französischen Antiklerikalismus nachzuahmen. Das Königreich säkularisierte den Besitz von Kirchen und Klöstern und setzte verschiedene Reformen durch. Piemont-Sardinien werde, so hofften italienische Nationalisten zunehmend, bei der Einigung eine Führungsrolle übernehmen. Frühere republikanische Vorstellungen oder die Idee einer italienischen Föderation mit dem Papst als Oberhaupt wurden als unrealistisch und naiv abgetan. Tatsächlich sollte der Papst, der als möglicher liberaler Reformer
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