Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
oder mehr Sprachen – die lokale Sprache zu Hause und im Dorf, Deutsch oder Ungarisch in der Welt der Bürokratie oder der Armee. Und die Bildung neuer Staaten sollte nicht einfach werden in Gegenden mit gemischter Bevölkerung. Es war im Interesse der Herrschenden, den Glauben an den Nationalismus zu zügeln, der dieses «Patchwork» auseinanderreißen und in ein Durcheinander sich bekämpfender Völker und Orte verwandeln würde. Und auch wenn die Dynastie eine deutsche war, konnte sie nur an der Spitze einer Vielvölkereinheit überleben; ihre Herrscher lernten Ungarisch und Italienisch genauso wie Französisch, die Sprache der europäischen Diplomatie. Fürst Klemens von Metternich, österreichischer Außenminister bzw. Staatskanzler von 1809 bis 1848, erkannte die potentiellen Schwachstellen seines Staates, der zwar über eine große Bevölkerung verfügte (50 Millionen), aber durch seine Lage und die vielen verschiedenen Ethnien verwundbar war. Er erkannte freilich auch, wie man die österreichische Macht steigern konnte. Der Zar von Russland und der König von Preußen (auf dessen Territorium im Osten eine nicht unbedeutende polnischsprachige Minderheit lebte) hatten in den ersten Jahren nach dem Wiener Kongress ein gemeinsames Interesse an gesellschaftlicher und territorialer Stabilität. Die drei Monarchien unterzeichneten deshalb einen Vertrag, der Stabilität auf der Grundlage der Religion gewährleisten sollte, die Heilige Allianz, trafen sich auf regelmäßigen «Kongressen» mit Briten und Franzosen zu Konsultationen über die Lage in Europa und gingen bis 1824 gemeinsam gegen revolutionäre Bestrebungen vor. Und sie begründeten den Deutschen Bund – einen losen Zusammenschluss, dem die deutschen Gebiete Österreichs und Preußens ebenso angehörten wie die deutschen Kleinstaaten, die aus dem Heiligen Römischen Reich hervorgegangen waren. An der Spitze dieses Bundes wechselten sich Österreich und Preußen ab. Und die gesamte geopolitische Maschinerie hing letztlich an der impliziten Macht der russischen Truppen, die Metternichs Programm einer konservativen Stabilisierung unterstützten. Als es den Ungarn 1848/49 zu gelingen schien, ihre Unabhängigkeit zu erringen, griffen russische Truppen ein und halfen den Österreichern, den Aufstand niederzuschlagen.
Doch binnen einer Generation wurden diese Strukturen von 1815 immer fragiler. In der wachsenden Mittelschicht der Region nahm auch das deutsche bzw. italienische Nationalgefühl zu, vor allem bei jüngeren Studenten. Demonstrationen an historisch bedeutsamen Tagen, Monumente nationaler allegorischer Figuren – etwa einer Germania – und literarische Hymnen auf Italien oder Deutschland wurden immer zahlreicher. Zudem wuchsen in der preußischen Bürokratie die Vorbehalte gegen die Fügsamkeit gegenüber Österreich, die das System mit sich brachte. Die westlichen Teile des Königreichs profitierten von der steigenden Kohle- und Eisenproduktion. Im 18. Jahrhundert hatte man eine Grundbildung für die Dorfbevölkerung eingeführt. Die Politik religiöser Toleranz sorgte dafür, dass gebildete Hugenotten und andere verfolgte Minderheiten nach Preußen kamen. Nach der Niederlage gegen Napoleon hatte die Monarchie das französische System einer allgemeinen Wehrpflicht übernommen. Als Teil der Koalition gegen Bonaparte bekam sie 1815 ihr Territorium zurück und vergrößerte es sogar noch. Preußen, das eine geringere Bevölkerungszahl aufwies als Österreich, erlebte einen lebhaften wirtschaftlichen Aufschwung, und seine Städte, darunter auch Berlin, wuchsen. Schon 1819 entwarfen preußische Beamte einen Zollverein für ihren eigenen Staat, in dem die Binnenzölle aufgehoben waren, und in den folgenden Jahrzehnten nahmen sie auch andere Staaten mittlerer Größe in diese Freihandelszone auf. Die Gebiete der Habsburgermonarchie hatten nicht nur mit inneren Spannungen zu kämpfen; zunehmend wurde auch ihr Führungsanspruch im Deutschen Bund in Frage gestellt.
Auch die italienischen Gebiete in der Lombardei und Venetien rieben sich zunehmend an der habsburgischen Herrschaft, und in Zentral- und Norditalien entwickelten viele Menschen aus der Mittelschicht Vorstellungen davon, wie man eine entstehende italienische Nation einen könne. Zahlreiche Intellektuelle, Dichter und Publizisten beschäftigten sich mit dieser Frage, die von den österreichischen Autoritäten und anderen konservativen Regenten auf der geteilten Halbinsel weiter unterdrückt
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