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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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debattiert.
    Gleichwohl stimmte Bismarck zu, dass der neue Reichstag (wie das alte Parlament des Zollvereins und der zwischenzeitliche Reichstag des Norddeutschen Bundes) nach dem allgemeinen Wahlrecht für Männer gewählt werden sollte. (Ein Oberhaus mit begrenzten Befugnissen, der Bundesrat, setzte sich aus Delegierten der Gliedstaaten zusammen.) Das bedeutete, dass ein Organ in der deutschen Verfassungsstruktur das gleiche demokratische Privileg hatte wie der US-Kongress oder die neue französische Abgeordnetenkammer. Der Reichstag durfte jedoch den Kanzler nicht abwählen; er konnte ihm allenfalls durch eine Blockade bei der Verabschiedung des Haushalts das Leben schwer machen. Zudem war es so, dass der Kanzler und Ministerpräsident einerseits eine Reichstagsmehrheit für sich gewinnen musste, die im Zuge der industriellen Entwicklung immer stärker aus Liberalen und Vertretern der Arbeiterklasse bestand, und gleichzeitig ein paar Straßen weiter den Staatshaushalt für Preußen durch das Preußische Abgeordnetenhaus (und das Preußische Herrenhaus) bringen musste, das über eine konservative Mehrheit verfügte. Denn Preußen behielt bis zur Niederlage im Ersten Weltkrieg ein Dreiklassenwahlrecht, das den wohlhabenden Wählern einen weitaus größeren Anteil an Delegierten zugestand als den weniger reichen.
    Bismarck verfügte über die nötige Durchsetzungskraft und das Ansehen, um durch dieses System zu navigieren, doch für seine Nachfolger wurde diese Aufgabe zu einer immer größeren Herausforderung. Nach dem Ende des Dritten Reiches hoben Historiker gern die autokratische Seite des deutschen Kaiserreichs hervor – das einem entschlossenen Kaiser und mächtigen Militärs die Möglichkeit bot, in die Politik einzugreifen –, doch in jüngster Zeit hat die Forschung vor allem auf die bemerkenswerte Qualität des politischen Diskurses verwiesen, die das Leben auf nationaler wie lokaler Ebene auszeichnete. Bis zum Ende der 1870er Jahre tat sich Bismarck gern mit den Nationalliberalen zusammen und versammelte sie gegen angebliche Bedrohungen durch die verärgerten Katholiken und die gerade im Entstehen begriffene, noch schwache Sozialdemokratie. Ende der 1870er Jahre vereinheitlichte Deutschland seine Gesetzbücher und sein Münzsystem; die Wehrpflicht und die stärkste Armee in Europa wurden beibehalten. Die industrielle Entwicklung, deren Speerspitze die Kohle- und Stahlzentren an der Ruhr und im annektierten Lothringen waren, machte Deutschland schon bald zur führenden Industriemacht auf dem Kontinent, die in den 1890er Jahren auch Großbritannien bei der Stahlproduktion überflügeln sollte. Bismarck erklärte, Deutschland sei saturiert und wolle ein Stabilitätsfaktor sein, doch die Annexion von Elsass und Lothringen erschwerte eine echte Aussöhnung mit Frankreich.
    Das Habsburgerreich musste sich nach der Niederlage von 1866 ebenfalls konsolidieren. Während die neuen Realisten unter den ungarischen Adligen das Ziel einer vollständigen Unabhängigkeit auf Eis gelegt hatten (zumindest bis 1918), nutzen ihre Anführer unter Ferenc Deák die österreichische Niederlage, um im Zuge des sogenannten Ausgleichs von 1867 ein höheres Maß an Autonomie zu erzwingen. Fortan sollte das Habsburgische Reich in zwei Reichshälften geteilt sein: Der Kaiser der Gebiete im Westen (Österreich, Böhmen und Mähren) war zugleich Apostolischer König von Ungarn, und das Land firmierte von nun an als Österreich-Ungarn oder k. u. k. Doppelmonarchie. Dieser Dualismus bürdete jeder der beiden Hälften ein riskantes Maß an staatlicher Konsolidierung auf, doch die beiden «historischen Völker» hatten es in ihren jeweiligen Gebieten mit aufsässigen Nationalitäten zu tun. Die Ungarn sollten ihre große Hälfte mittels eines manipulierten Wahlrechts regieren, wie das auch die weißen Amerikaner in den ehemaligen konföderierten Staaten getan hatten. Innerhalb des Königreichs genoss Kroatien einen teilautonomen Status. Verbunden waren die beiden Hälften der Doppelmonarchie durch ein gemeinsames Außenministerium, gemeinsame Land- und Seestreitkräfte, bei denen Deutsch weiterhin Kommandosprache war, sowie durch eine Handels- und Zollunion, die alle zehn Jahre überprüft wurde und die das überwiegend agrarische Ungarn mit den stärker industrialisierten Regionen in Böhmen und Österreich verband. Österreich behielt Triest als Adriahafen; Ungarn verfügte, ebenfalls an der Adria, über die Häfen von Pola (heute Pula

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