Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
scharten sich um die Comteschen Ideen von «Ordnung und Fortschritt». Das Riesenland Brasilien, das unter den Kaisern, welche einer exilierten portugiesischen Linie entstammten, dezentralisiert worden war, machte sich langsam daran, die Sklaverei und damit das Kaiserreich abzuschaffen.
Kanada stellte sein Eisenbahnnetz fertig und schuf nach Verhandlungen ein geeintes Dominion. Die Republikanische Partei in den USA war entschlossen, die heimische Produktion durch Schutzzölle zu fördern, den Süden zu integrieren und die Gebiete im Westen für Siedler zu öffnen – die Republikaner sollten das Land mehrere Jahrzehnte lang regieren, nachdem die radikalen Teile der Partei den Versuch aufgegeben hatten, die ehemalige Konföderation wieder ins Leben zu rufen. Angesichts der Chancen, die sich Farmern, Industriellen und sogar den Großgrundbesitzern im Süden durch die Eisenbahnen und den Westen jenseits des Mississippi in Hülle und Fülle boten, sollten als Opfer allein die Schwarzen (und die indigenen Stämme im Westen) bleiben. Selbst die französische Republik, die eine mächtige Nationalversammlung installiert hatte, sollte mit Hilfe eines zentralisierten Präfektensystems ihr Eisenbahnnetz und ein säkularisiertes, staatliches Schulsystem vorantreiben.
In einem Großteil der «zivilisierten» Welt – also in Europa mit seinen amerikanischen Ablegern, in den britischen Dominions und in Japan – waren somit die Staaten Trumpf. Das Rezept fürs Regieren sah vor, das Staatsgebiet zu entwickeln, die Macht in den Händen von Wissenschaftlern, Fachleuten und Besitzenden zu konzentrieren und sich auf eine anhaltende militärische Rivalität vorzubereiten. Überdies galt es den archaischen Verlockungen des Kommunalismus zu widerstehen, die dem Anarchismus und Syndikalismus gefährlich nahe kamen, ob nun in Form von Programmen, mit denen die Regierung auf Dorfgemeinschaften und Kollektivbesitz gegründet werden sollte, was nur von ehemals leibeigenen Bauern oder indigenen Stämmen befürwortet wurde, oder in Gestalt von Forderungen der Arbeiterklasse nach gewerkschaftlicher und syndikalistischer Macht. Und man musste sich allen supranationalen Ansprüchen religiöser Autoritäten widersetzen, also der römisch-katholischen Hierarchie im Westen, der ulama in der islamischen Welt oder den buddhistischen Klöstern in Fernost.
Natürlich gab es auch Nachzügler bei diesem Prozess. China blieb ein Opfer: Briten und Franzosen waren 1860 erneut in den Krieg gezogen und hatten weitere Konzessionen erzwungen; die Taiping hatten enorm an der imperialen Kraft gezehrt – die Macht des konfuzianischen Staates und die wachsende Verelendung der bäuerlichen Massen verhinderten jedoch trotz aller Versuche eine wirkungsvolle Reaktion. Die Osmanen, die Ägypten und einen Großteil ihrer Gebiete auf dem Balkan verloren hatten, hatten mit enormen Selbstwidersprüchen zu kämpfen: Übernahmen sie die modernen Prinzipien einer säkularen osmanischen Staatsbürgerschaft, untergruben sie den religiösen Kommunalismus, der die Grundlage des Reiches und seines Aufstiegs gebildet hatte. Sie taten sich schwer, ökonomische Ressourcen zu mobilisieren und Erträge zu erwirtschaften. Wie im Falle Chinas und in gewissem Maße auch Lateinamerikas, wo Rohstoffgewinnung, Warenexporte und die Aktivitäten in den Seehäfen für Wohlstand sorgten, sollten Ausländer einen Gutteil dieses Prozesses kontrollieren und die eigenständige Entwicklung verlangsamen.
Die Briten verspürten ebenfalls einigen Druck, ein politisches System und ein Bildungssystem zu modernisieren, die nicht aufgrund radikaler Erschütterungen oder einer militärischen Niederlage zu einer Reform gezwungen waren. Zwischen den 1830er und den 1870er Jahren sollte auch Großbritannien wichtige Reformen durchführen – einen weniger paternalistischen Ansatz in der Armutsbekämpfung, eine Reform des Militärs (mit der Abschaffung des Kaufs von Offizierspatenten), Freihandel, eine wichtige Gemeindereform – und seine große indische Besitzung nach der Niederschlagung des Aufstands von 1867 rationalisieren. Auch die Russen gingen weniger radikal vor, schafften aber die Leibeigenschaft ab und richteten in den 1860er und 1870er Jahren erste Repräsentativinstitutionen ein. Die transkontinentale russische Eisenbahnlinie musste noch bis Ende des 19. Jahrhunderts warten, ebenso die Lockerung des gemeinsamen Grundbesitzes in den Dörfern, und ein nationales Parlament gab es erst 1905.
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