Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
in Kroatien) sowie Fiume (heute Rijeka). Das ungarische Parlament, der Reichstag, das bis 1911 nach eingeschränktem Wahlrecht gewählt wurde, war in mehr oder weniger nationalistische Abgeordnete geteilt; der Reichsrat in Wien, die parlamentarische Vertretung der Westhälfte, versammelte Sozialdemokraten, Liberale, katholische Populisten (Christsoziale), Alldeutsche und starke tschechische und polnische Fraktionen, die sich für die Sprachrechte ihrer jeweiligen Nationalitäten und die Kontrolle über die Schulbudgets einsetzten. Von Staatsdienern wurde erwartet, dass sie sich in Berichten nach Wien der deutschen Sprache bedienten, mit der in den jeweiligen Regionen dominanten Bevölkerung aber die lokale Umgangssprache pflegten. Die österreichische Hälfte plagten auch weiterhin Sprachprobleme im Hinblick auf die Schulen.
Tatsächlich war nicht ganz klar, wie man den westlichen Teil der Donaumonarchie nennen sollte: Österreich war streng genommen nur ein Teil dieser Reichshälfte; der Kaiser (der aber in der Westhälfte nirgends König war) behielt eine verwirrende Vielzahl an Titeln für die verschiedenen Provinzen (zusammengefasst im sogenannten Großen Titel). Der Begriff «kaiserlich und königlich» oder «k. und k.» fand auf Beamte, Flaggen, Konsulate usw. des gesamten Reichsgebiets Anwendung. Inoffiziell wurde für den westlichen Teil mitunter der Begriff Cisleithanien verwendet – die Gebiete «diesseits» des Flüsschens Leitha, das die Grenze zu Ungarn bildete. Offiziell blieben es die Gebiete, die im Reichsrat vertreten waren. Es gab ein «dort dort», um Gertrude Steins späteren Aphorismus über das kalifornische Oakland – «There is no there there» – ins Positive zu kehren, aber niemand wusste so genau, wie man es bezeichnen sollte. Als der ethnische Nationalismus zunahm, geriet die Struktur unter immer größeren Druck, auch wenn die österreichische Sozialdemokratie und die jüdische Bevölkerung, die die Gefahren eines deutschen, ungarischen, polnischen oder rumänischen Nationalismus erkannten, der Dynastie als einender und hoffentlich mäßigender Macht am stärksten die Treue hielten.
Historiker haben die Doppelmonarchie oft als einen dem Untergang geweihten Staat betrachtet, doch er kämpfte im Ersten Weltkrieg vier Jahre lang, bevor er auseinanderbrach. Seine Streitkräfte waren nur selten siegreich, es sei denn, sie kämpften gemeinsam mit dem deutschen Militär, aber sie funktionierten trotz der Sprachenvielfalt unter den Rekruten als Einheit. Die Beamten der Donaumonarchie schienen einen behäbigen Formalismus zu pflegen, aber sie repräsentierten erfolgreich die Monarchie und ihr ausgefeiltes Rechtssystem. Und im Rahmen dieses wackligen Kompromisses zwischen modernen vornationalen (und postnationalen) Elementen, zwischen parlamentarischem Staat und militärisch-bürokratischem Großreich, konnten seltsamerweise die gewagtesten Experimente in Musik, Philosophie und Psychologie gedeihen.[ 86 ]
Die Welt der 1870er Jahre
Die Welt der 1870er war eine veränderte – verändert nicht nur durch Revolutionen, sondern durch starke Führungspersönlichkeiten, Realisten, die an Eisenbahnen, Eigentum, wirtschaftliche Entwicklung, nationale Macht und die Unvermeidlichkeit von Konflikt und Konkurrenz glaubten. Selbstverständlich gab es bedeutsame Unterschiede. Die Italiener, die ihre Hauptstadt 1870 nach Rom verlegten (nach einer Interimsphase von sechs Jahren in Florenz, das auf Turin gefolgt war), wussten, dass sie einen anderen Weg eingeschlagen hatten als die Preußen. Ihr Parlament hatte vergleichsweise mehr zu sagen, und in ihren Augen glorifizierten die Preußen das Militär. Aber auch sie identifizierten sich mit dem Nationalstaat. Die Einiger, die den neuen japanischen Nationalstaat aufbauten, empfanden eine verwandtschaftliche Nähe zu den Deutschen – wie diese betrachteten sie die Monarchie mitsamt ihren Beamten und Generälen als entscheidend für den eigenen Staat, und die Industrialisierung ahmten sie so rasch wie möglich nach, indem sie ihre talentiertesten Diplomaten und Militärs zum Studium in den Westen schickten. Die Brasilianer und Argentinier, die (zusammen mit den Uruguayern) gemeinsam daran gearbeitet hatten, die Republik Paraguay fast vollständig auszulöschen, welche ihnen den Binnenzugang zu den großen Flüssen versperrt hatte, hingen weit stärker vom wirtschaftlichen Einfluss Großbritanniens ab. Sie überwanden die alten Konflikte jedoch einigermaßen und
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