Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Zweiten Weltkrieg eine deutliche Ausweitung erfuhren. In dieser Rolle agierten die Staaten gesellschaftsprägend, indem sie für Bildung sorgten, in die Infrastruktur investierten und die Wirtschaft regulierten. Da die Staaten während des Kalten Krieges international konkurrierten, engagierten sie sich auch in Sachen Modernisierung und Entwicklung. Eine weiche Agenda verzichtete nicht auf große soziale Ziele, und Kritiker von Friedrich A. von Hayek bis James C. Scott haben die Ansicht vertreten, die weiche Agenda könne stillschweigend genauso viel Zwang ausüben wie die brutalere harte Agenda; doch die Tatsache, dass man eine Steuer auf künftige Rentenzahlungen gewärtigen oder Zwangsbeiträge an die Gewerkschaft zahlen muss, lässt sich nicht mit einem Verhör durch die Gestapo vergleichen. Es war gerade die «harte» Agenda, die sich auf den Ausnahmezustand oder den Notstand berief – politische Aktivität als Reaktion auf Krieg, Revolution und Unruhe. Staaten waren nicht einfach nur dazu da, die Entwicklung ihrer Gesellschaften voranzutreiben: Fragen der Souveränität, Identität und Gewalt stellten sich wieder mit neuer Dringlichkeit und wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zentralen Anliegen. Das waren sie auch im 17. Jahrhundert gewesen, sie waren jedoch allmählich von der aufklärerischen Konzentration auf die bürgerliche Gesellschaft verdrängt worden. Schmitt hatte ganz richtig erkannt: Hobbes war wieder da.
Selbst bei Nationen, die normalerweise im eigenen Land liberal waren, machte sich die harte Agenda, das Regime der «Ausnahme» in zwei Arten von Aktivitäten bemerkbar. Das war zum einen, wie wir gesehen haben, die Kolonialverwaltung; zum anderen betraf das den Staat im Krieg. Die Kolonialverwalter und ihre widerspenstigen Untertanen begriffen, dass es in der imperialen Welt vor allem um Souveränität ging und gehen musste: Souveränität über erworbene Untertanen, Souveränität hinsichtlich potentieller Kolonialrivalen. Die Wahrung der Souveränität bedurfte freilich dessen, was die französischen Befürworter des Kolonialismus als «Valorisierung» ihrer «Besitzungen» bezeichneten, das heißt die Modernisierung und Entwicklung ihres wirtschaftlichen Potentials, im Hinblick auf Güter wie auf Arbeitskräfte. Doch auch Intellektuelle und Staatsdiener in den Kolonien glaubten, Modernisierung, das Streben nach Reichtum und Macht seien Voraussetzung, um sich gegen die europäischen Mächte behaupten zu können.
Im Pazifikraum ließen sich aus der japanischen Erfahrung für beide Seiten wichtige Lehren ziehen: Die Meiji-Reformer hatten sich bewusst und erfolgreich für die Modernisierung entschieden, um eine mögliche Quasi-Kolonialisierung zu vermeiden. Doch sie bauten die nationale Selbstständigkeit ausgerechnet zu einer Zeit wieder auf, als die meisten erfolgreichen Staatsmänner der Überzeugung waren, die Kulturen seien geteilt in die dynamischen und in die kraftlosen. Sie betraten eine Staatenwelt «rot an Zähnen und Klauen» (Alfred Tennyson), weshalb sie glaubten, ihre eigenen Zähne und Klauen müssten so scharf sein wie die aller anderen, und machten sich zu diesem Zweck noch in der gleichen Generation daran, rasch ihr eigenes asiatisches Reich zu schaffen. Nach dem japanischen Sieg über China 1895, den die europäischen Mächte in Grenzen zu halten und dann für ihre eigenen Zwecke auszunutzen versuchten, führte die anschließende Rivalität mit Russland um die Vorherrschaft in Korea zum Russisch-japanischen Krieg von 1904/05 und zur ersten großen militärischen Niederlage, die einem europäischen Großreich in der Neuzeit von einer asiatischen Macht zugefügt wurde. Japan zerstörte die russische Flotte, doch die Belagerungen von Port Arthur und Dalian gerieten zum Stellungskrieg, der schließlich durch die Vermittlung von US-Präsident Theodore Roosevelt im fernen Portsmouth, New Hampshire ein Ende fand. Japan erhielt die russischen Rechte über die Häfen der Mandschurei, Sachalin und andere Inseln sowie genügend freie Hand, um Korea 1910 zu annektieren. Tokios neues Imperium beruhte auf harter Machtausübung, aber auch auf einer Entwicklungsagenda für die Mandschurei und – in geringerem Maße – Taiwan und Korea. Chinesische Reformer und Revolutionäre, die in Tokio Zuflucht fanden, lernten in den zehn Jahren nach der Niederlage ihres Heimatlandes jede Menge von den siegreichen Japanern. Angesichts des imperialen Konflikts, der sich eröffnete, als
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