Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
weiterhin spielte, mit Sicherheit bis in die 1980er Jahre. Außerhalb der Kolonialwelt war offenkundig die gesetzgebende Versammlung oder das Parlament diejenige Regierungsinstitution, die im Laufe des 19. Jahrhunderts – 1890 kam sie schließlich auch in Japan an, 1905 in Russland, 1912 in China – triumphiert hatte. Doch konservative Kritiker wie Carl Schmitt oder vor ihm Gaetano Mosca wiesen darauf hin, dass sich die Parlamente schwer taten, in ihrer Rolle als Volksversammlungen entschieden zu handeln, und bei ihren Entscheidungen deshalb auf ein Ausschusssystem oder auf die Parteiführer setzten, die Mehrheiten organisierten. Noch 1900 ähnelten die konkurrierenden Parteien eher Clubs als festen Zusammenschlüssen, wenngleich die Parteien zunächst in den USA und dann in Großbritannien, wo im Zuge der Wahlkämpfe in regelmäßigen Abständen über die Parteiführer und die Kandidaten fürs Parlament entschieden wurde, zu dauerhaften Regierungsinstitutionen mit hauptamtlichem Personal und ihnen nahe stehenden Zeitungen wurden. Doch wo diese Auswahlverfahren nur schwach ausgeprägt oder noch recht frisch oder aber gar nicht vorhanden waren, führte die Entwicklung im 20. Jahrhundert stattdessen dazu, dass eine einzige umfassende Partei eine überragende Rolle spielte oder das Militär die Herrschaft übernahm.
Militärherrschaft und Einparteiendiktatur schienen Carl Schmitts harte These zu bestätigen, wonach wahre Autorität nur außerhalb der Verfassung entstehe. Souverän war die Armee oder die autoritäre Partei. Oder stimmte das allenfalls auf kurze Sicht? Eine Militärherrschaft konnte nicht die nationale Einheit und schon gar nicht die innere Befriedung garantieren. In den großen Ländern, in denen schwache nationale Regierungen unter dem Druck imperialistischer Ausbreitung oder wirtschaftlicher Stagnation zusammenbrachen, waren territoriale Zersplitterung und Kriegsherrentum eine immer wiederkehrende Gefahr. Selbst dort, wo ein geeintes Militär das gesamte Staatsgebiet kontrollierte, erschien ihm eine dauerhafte Herrschaft mittels Bajonett frustrierend. Es musste sich zunehmend um die Bedürfnisse der Zivilgesellschaft kümmern und damit in die Welt der politischen Debatte und des Pluralismus eintreten. Einige Militärherrscher versuchten sich mit fortdauernder Gewalt daran, andere, indem sie autoritäre nationale Parteien unterstützten. Jahrzehnte später sollten die Generäle und Diktatoren merken, dass sie nicht imstande waren, mit komplexen Zivilgesellschaften mit ihren konkurrierenden Interessen umzugehen. Sie wussten nicht wirklich, wie sie auf religiöse Sehnsüchte, Konsumentenwünsche und die Technologie des Computerzeitalters reagieren sollten. Sie boten autoritäre Lösungen an, die sich allerdings nur schwer fortsetzen ließen, als das Zeitalter von Eisen und Stahl der Ära von Silizium und Software weichen musste. Doch ihre Demontage ist die Geschichte unserer Epoche, nicht des hier in Rede stehenden Zeitraums.
Krisen der Repräsentation
Nur in den geschützten bürgerlichen Nischen von Wien oder Paris oder in den verschwiegenen Banken und Clubs von London dauerte es bis zum Ersten Weltkrieg, ehe auch dort die douceur de vie des 19. Jahrhunderts zerbrach. Von Mitte der 1890er Jahre an geriet die Staatenwelt – die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits neu strukturiert und dann mit ambitionierten Programmen für Entwicklung zu Hause und Expansion in der Ferne befrachtet worden war – in stürmisches Fahrwasser und unternahm neue Experimente, die schrecklich endeten. In immer schnellerer Abfolge kam es zu immer heftigeren Turbulenzen: Hungersnot in Indien und ein Wiederaufleben der antibritischen Gewalt ab Ende der 1880er Jahre; eine globale Wirtschaftskrise 1893 und eine Mobilisierung von Protestbewegungen in Italien und den USA sowie große Streikaktionen überall in Europa. Hinzu kam ein Krieg nach dem anderen: zwischen China und Japan 1894/1895, zwischen Griechenland und der Türkei 1896/97, zwischen den Vereinigten Staaten und Spanien 1898, zwischen Großbritannien und den Buren 1899–1902, zwischen Russland und Japan 1904/05, zwischen Italien und den Osmanen 1911, zwischen den Balkanstaaten und den Osmanen 1912 und schließlich zwischen den Balkanstaaten selbst 1913 – Kriege, in denen immer häufiger Massaker an der Zivilbevölkerung verübt wurden: an den Armeniern im Osmanischen Reich 1897, an den Herero in den deutschen Kolonien 1905, an Bosniern und Albanern auf
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