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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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geschehen war. Viele sollten von den sich ausbreitenden Städten und Territorien absorbiert werden; anderen gelang es, im Dschungel oder in Hochlandregionen zu überleben, wohin sich die Sieger nicht wagten – dort warteten sie auf endzeitliche Erlösung oder wurden später von Anthropologen entdeckt und oftmals ins «mittige» Leben zurückgerufen. Ihr Schicksal erregte damals die Aufmerksamkeit von Romanciers und wird von heutigen Historikern zu Recht erforscht. Doch wir müssen fortfahren mit dem Fortschreiten derjenigen, die unablässig in deren einst geschützte Bereiche vordrangen.

4. AUSNAHMEZUSTÄNDE – AUSNAHMESTAATEN? (20. JAHRHUNDERT)
    Souveränität und Wohlfahrt
    «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» Vergessen Sie all die netten Beschreibungen der Rechtsordnung, behauptete der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt 1921: Über die Souveränität verfügt derjenige, der die Macht besitzt, das Recht beiseite zu schieben.[ 134 ] Schmitt meinte freilich nicht einfach nur de facto bestehende Macht: Souveränität stand für ihn über dem Recht und entzog sich den Beschränkungen der Verfassung. Schmitt, der fast 100 Jahre alt wurde und 1985 starb, war niemals frei von dem Wunsch, bürgerliche Normen zu übertreten, und er strebte danach, im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg so etwas wie das Aushängeschild der konterrevolutionären Rechtsund Politiktheorie und später der «Hoftheoretiker» der Nationalsozialisten zu sein. Seine Formel bekam für viele Staaten im 20. Jahrhundert Relevanz, als sie mit Bürgerkrieg, Revolution, Wirtschaftskrise und Krieg zu kämpfen hatten. Der Ausnahmezustand oder Notstand war gegeben, wenn die Rechts- oder gar Verfassungsordnung mitsamt ihrem Schutz der Bürgerrechte einer Bedrohung für die Nation nicht mehr Herr wurde und deshalb aufgehoben werden musste. Das war der Moment, in dem der Herrscher gemäß dem, was seit Machiavelli als raison d’état , als Staatsräson bezeichnet wird, handeln musste, oder ganz einfach der Moment, den Präsident George W. Bush meinte, wenn er von sich selbst – zweifellos ohne je eine Zeile von Schmitt gelesen zu haben – als «dem Entscheider» sprach.[ 135 ]
    Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist geprägt von Ausnahmezuständen, und die Staaten, die in diesen Ausnahmezuständen geschaffen wurden, konnten sich in der Tat als exzeptionell in ihren Forderungen und in ihrer Brutalität erweisen. Für Schmitt aber waren sie nicht als solche exzeptionell, denn letztlich musste jeder Staat exzeptionell sein, und Politik spielte sich stets in den Zwischenräumen ab, wo das Gesetz nicht mehr hinreichte – das galt vor allem für die Demokratie. Denn Demokratie hatte – wie er in seinen Schriften betonte, auf die wir weiter unten zurückkommen werden – nichts mit Menschenrechten zu tun oder damit, politische Alternativen durch Diskussion aufzulösen (wie es der Liberalismus propagierte), sondern es ging darum, dass ein Volk seine Identität definierte und schützte, darum, wer zu «uns» gehörte und wer zu «denen». In diesem Sinne finden sich allerorten Erben Schmitts, die zwar nicht mehr der totalitären Versuchung erliegen, aber doch das öffentliche Leben im Wesentlichen durch unüberwindliche ethnische Gegensätze bestimmt sehen, und zwar üblicherweise in Gestalt der Zuwanderung aus Asien, Afrika und (im Falle der USA) aus Lateinamerika. Zwischen den Weltkriegen sprachen sie vom Bürgertum und vom Proletariat, von Kulaken und Kollektiven, von Juden und Deutschen. Und natürlich redeten sie nicht nur. Wo sie sich und ihre Sache von fundamentalen Gegnern im Innern bedroht sahen, machten sie sich daran, diese auszulöschen.
    Schmitts Formel macht uns darauf aufmerksam, dass der Staat des 20. Jahrhunderts zwei Agenden verfolgen konnte, die begrifflich getrennt, aber oft miteinander verwoben sind; die eine könnte man als «weich», die andere als «hart» bezeichnen. Die weiche Agenda implizierte eine Ausweitung der politischen Strategien, die mit Foucaults Vorstellung von der «Gouvernementalität» verbunden ist, und die Modernisierung der Gesellschaft, wie wir sie im vorangegangenen Abschnitt skizziert haben. Die Ausweitung der Staatstätigkeit in diesem Sinne sollte zum heutigen «Wohlfahrtsstaat» führen, wie er sich allmählich aus den Arbeitsschutzgesetzen, der Altersvorsorge und der frühen Sozialversicherung entwickelte, die in Europa im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahmen und in der Zeit nach dem

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