Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
die Schwäche Koreas und der Mandschurei Russland, Japan und indirekt auch die westlichen Mächte mit sich riss, spricht einiges dafür, die internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Konflikt von 1895 beginnen zu lassen.[ 136 ]
Werfen wir einen genaueren Blick darauf, wie sich die Kriege (einschließlich des Kalten Krieges), die fast das gesamte 20. Jahrhundert durchzogen, ganz allgemein auswirkten. Die fiskalischen Erfordernisse der Kriege hatten im 17. und 18. Jahrhundert zur Entstehung des Leviathan 1.0 beigetragen: also des dynastischen Territorialstaats, der auf seiner Souveränität beharrt, der entschlossen ist, sich wenn nötig über lokale Privilegien hinwegzusetzen, und der das Ziel hat, seine ökonomischen Ressourcen und die Infrastruktur zu entwickeln. Die Kriege Mitte des 19. Jahrhunderts waren, wie wir gesehen haben, entscheidend für die territoriale und regierungstechnische Konsolidierung des Leviathan 2.0. Und auch die großen Kriege des 20. Jahrhunderts spielten eine tragende Rolle. Auch wenn sie in hohem Maße der expansionistischen Rolle entsprangen, die der neu erfundene Nationalstaat des 19. Jahrhunderts so verlockend fand, trieben die Weltkriege diese Staaten noch weiter dazu, ihre Volkswirtschaften und Gesellschaften in bislang nicht gekanntem Ausmaß zu mobilisieren. Der Krieg rechtfertigte den Machtzuwachs im Innern und galt den rücksichtsloseren Staatsmännern des neuen Jahrhunderts als Paradigma, diese Macht zu ergreifen und auszuüben. Die Leser dieses Buches werden ihr Leben in Staaten verbracht haben, deren Verfügungsgewalt über das Leben des Einzelnen, deren Bestrebungen, die Wohlfahrt, oftmals auch die Wohnsitze und mitunter sogar den demographischen Fortbestand und die erlaubten öffentlichen Meinungsäußerungen zu regeln, durch die Weltkriege und die Auseinandersetzungen des Kalten Krieges deutlich verstärkt wurden.
Die Erfahrung der beiden Weltkriege führte denn auch die beiden Agenden von Entwicklung und Souveränität zusammen. Die an diesen langwierigen Konflikten beteiligten Staaten mussten in einem bislang nicht dagewesenen Ausmaß massenhaft Truppen mobilisieren, ihre Industrien, ihre Verkehrswege sowie ihre medizinischen und sozialen Dienste koordinieren und mit ihren Gewerkschaften verhandeln. Die Marktmechanismen, mit deren Hilfe knappe Arbeitskräfte oder Rohstoffe beschafft werden sollten, brachten oft chaotische Resultate und führten zu Inflation, weshalb sie weitgehend durch Zuteilungsausschüsse der betreffenden Bereiche ersetzt wurden. Neue Ministerien für Waffen und Munition zwangen Unternehmer, die sich den Gewerkschaften widersetzt hatten, dazu, trilaterale Verhandlungen zwischen Staatsbeamten und mitunter Generälen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu akzeptieren. So viele Frauen wie noch nie bevölkerten den Bereich der nicht-häuslichen Arbeit. Der kriegführende Staat wurde zu einem Proto-Wohlfahrtsstaat, verfügte jedoch über Zwangsmittel, die in der Tat exzeptionell waren. Der britische Defense of the Realm Act (DORA) verschaffte der Regierung 1914 im Grunde die Macht, alles aus ihrer Sicht Nötige zu tun, um Krieg führen zu können. In Großbritannien herrschten weiterhin hohe unausgesprochene Erwartungen an schickliches und liberales Verhalten, und es galt als ausgemacht, dass eine solche Machtfülle nicht dazu benutzt werden dürfe, um die freie Meinungsäußerung zu behindern, es sei denn, sie stellte die Kriegsanstrengung in Frage. Da die Renten und die medizinische Versorgung verwaltet werden mussten, bestanden viele dieser Institutionen auch nach dem Krieg weiter. Zwar wurden die Eingriffe in Preis- und Marktmechanismen nach dem Ersten Weltkrieg im Allgemeinen wieder rückgängig gemacht, doch die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg machten einige der Innovationen zu dauerhaften Einrichtungen. Definierte man Macht in jedem Staat nach dem, was während des Ausnahmezustands geschah, so waren die Ausnahmezustände nicht mehr so exzeptionell.[ 137 ]
Der Aufstieg des kriegführenden Staates: Kanadische Arbeiterinnen in einer Munitionsfabrik, September 1916. Kanada und die Dominions traten 1914 gemeinsam mit dem «Mutterland» in den Krieg ein, und wie in anderen kriegführenden Staaten wurden die Männer zu den Waffen gerufen, während die Frauen traditionelle Männerberufe übernahmen.
Schließlich kam die doppelte Agenda in der außerordentlichen Rolle zum Ausdruck, die das Militär überall auf der Welt
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