Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
dem Balkan 1911. Während sich die Kriege noch immer «weit entfernt» von Westeuropa und Nordamerika abspielten, erweiterten die Mächte im Zentrum ihr Netzwerk an Schicksalsgemeinschaften und Verpflichtungen: zwischen Franzosen und Russen nach 1894, zwischen Briten und Japanern 1902, zwischen Briten und Franzosen 1904, zwischen Briten und Russen 1907.
Beginnend mit der Konfrontation zwischen Russland und Japan, hat Niall Ferguson eine Chronik dessen erstellt, was er mit Recht als «the war of the world» des 20. Jahrhunderts bezeichnet, den er in erster Linie für das Produkt eines rassischen oder ethnischen Konflikts hält.[ 138 ] Ohne Zweifel dienten «Rassenunterschiede» als Rechtfertigung für den Imperialismus und als Freibrief für Gräueltaten. Doch Kriege entstanden nicht immer aus diesen Unterscheidungen, schon gar nicht die verheerendsten Kriege zwischen den europäischen Mächten. Entscheidend waren meiner Ansicht nach vielmehr die politischen Defizite der Imperien und das fortwährende Gefühl der Verwundbarkeit, das diese Defizite bei denen auslösten, welche die Großreiche am glühendsten verteidigten. Konflikte entstanden dort, wo Imperialeliten in der Defensive – Osmanen, Habsburger, Chinesen, Briten – und wo sie selbstgewisser waren – Japaner und Deutsche. Imperien wurden gepriesen als Friedensstifter innerhalb ihrer weit verstreuten und entlegenen Territorien. Tatsächlich konnten sie Gewalt im Innern und sogar Kriege untereinander hinauszögern, aber eben niemals unbegrenzt. Die Rechnungen wurden dann nach 1900 fällig.
Eine Synthese von Kultur, Reichtum und Macht: Die Spielzeiteröffnung der Pariser Oper im Palais Garnier, um 1890–1900. Das prächtige Pariser Opernhaus, das von Charles Garnier entworfen und in den 1860er Jahren im opulenten Beaux-Arts-Stil des Zweiten Kaiserreichs erbaut wurde, diente, wie ähnliche Häuser andernorts auch, als Ort, an dem sich das wohlhabende Bürgertum, das Ende des 19. Jahrhunderts überall in Europa und Amerika eine wichtige Rolle übernahm, öffentlich zeigte.
Wie in allen Revolutionsepochen ging es dabei um Legitimität, oder genauer: Die Legitimität war vielerorts in den 1890er Jahren ziemlich verbraucht. Legitimität impliziert, dass Autorität nicht allein auf Macht beruht; sie fußt auf einer moralischen Grundlage, die ohne fortwährenden Zwang für Respekt und Gehorsam sorgt. Ende des 19. Jahrhunderts mussten legitime Staaten bis zu einem gewissen Grad repräsentativ verfasst sein; sie mussten im Sinne der artikulierten oder vermuteten Interessen dessen agieren, was die Viktorianer als «öffentliche Meinung» bezeichneten. In den USA und Westeuropa hatte das lange Zeit bedeutet, sich einem Parlament zu beugen und die Rechte des Einzelnen zu respektieren. In der US-amerikanischen Demokratie hat Präsident Abraham Lincoln diese Vorstellung am weitesten gefasst: «government of the people, by the people and for the people», Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk. Zur Jahrhundertwende wurde die Repräsentation der «Gesellschaft» als komplexe Ansammlung von Identitäten und Interessen zur Basis für Legitimität. Es wurde jedoch für Staaten immer schwerer, die oftmals konfligierenden Interessen innerhalb der Gesellschaft adäquat zu repräsentieren.
Das galt nicht nur für autokratische Staaten, sondern auch für Länder, die sich ihrer zivilisatorischen Errungenschaften rühmten, nicht zuletzt der Rolle, die dort eine aufgeklärte öffentliche Meinung spielte. Die Kampagnen für eine Ausweitung des Wahlrechts waren das sichtbarste Zeichen des Bemühens, ein umfassenderes Verständnis von Gesellschaft zu erzeugen. Den europäischen Staaten gelang es Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts nach und nach, das Wahlrecht für Männer auszudehnen. Konservative Parteien setzten mitunter darauf, durch die Einbeziehung der breiteren Mittelschicht in die Wählerschaft ihre Stellung zu stärken (wie das etwa die britischen Tories 1867 taten); mitunter rechneten Konservative und Reformer damit, dass eine Reform die Gesellschaft insgesamt und ihre jeweilige Position festigen werde (wie in Italien 1912).
In anderen Fällen spekulierten bürokratische Herrscher darauf, mit Hilfe eines breiteren Wahlrechts den Einfluss mächtiger Eliten zu begrenzen; so setzten die habsburgischen Minister in beiden Hälften der k. u. k. Monarchie ein allgemeines Wahlrecht durch. Mitunter gab die politische Führung dem Druck von
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