Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
wobei eine russische Einflusssphäre im Norden und eine britische im Süden festgelegt wurden, wo die Briten ein Jahr später Öl fanden. Die öffentliche Meinung in Iran betrachtete das ganze verständlicherweise als Teilung des Landes. Die Vereinbarung beugte zudem einem Konkurrenzkampf um die Nordwestgrenze Indiens und um die Übernahme Afghanistans vor. Die beiden Mächte legten somit ihre potentiellen Konflikte in Zentralasien bei, was wiederum die Bildung der Triple Entente mit dem französischen Partner erleichterte, die als potentielles Gegengewicht zur deutsch-österreichischen Allianz in Europa und in der Kolonialwelt gedacht war.
Doch nachdem garantiert war, dass Russland Persien nicht teilen und die britische Grenze in Indien nicht bedrohen würde, schien sich London aus der aktiven Politik in Iran zurückzuziehen, während der russische Botschafter den Schah nun zu einer harten Linie drängte, woraufhin dieser mit Hilfe von Einheiten der persischen Kosaken das Parlament auflösen ließ, nachdem es auf den Straßen zu Protesten gekommen war. Die Gegenrevolution war freilich nicht das letzte Wort, und die europäische Politik hatte dabei erneut ihre Hände im Spiel. Die prodeutschen Jungtürken brachen in Konstantinopel eine Revolution vom Zaun; Berlin zwang Russland 1909, die demütigende Annexion Bosniens durch Österreich anzuerkennen, und Russland beschloss, dass angesichts der bedrohlichen internationalen Situation eine Kooperation mit den Briten nötig war. Beide arbeiteten erneut in Iran zusammen und konnten einen Kompromiss in Sachen Verfassung erreichen, der die Madschlis wieder einsetzte. Konservative Kleriker behielten theoretisch das Recht, die Gesetze unter religiösen Gesichtspunkten zu überprüfen, doch diese Klausel wurde nie umgesetzt.
Der Sieg des säkularen Liberalismus blieb jedoch vorläufig und prekär. Als die Iraner den amerikanischen Finanzexperten William Morgan Shuster ins Land holten, der das staatliche Finanzwesen als Schatzkanzler neu organisieren sollte, forderten die Russen seine Entlassung, da der Vertrag von Petersburg den Mächten das letzte Wort bei einer solchen Ernennung einräumte. Als sich die Madschlis dem widersetzte, setzten sie Truppen Richtung Teheran in Marsch. Das Kabinett lenkte ein, entließ Shuster und löste das Parlament im Dezember 1911 auf. Die Verfassung blieb in Kraft, doch bis 1914 gab es keine neuen Wahlen. Russische Truppen und die aserbaidschanischen Revolutionsbewegungen beherrschten den Norden des Landes ab 1914, bis die neu an die Macht gekommenen Bolschewiki entschieden, der Handel mit den Briten sei wichtiger, als auf einer harten Kontrolle in Iran zu beharren. Sie sagten zu, ihre Truppen abzuziehen. Die Briten unterstützten möglicherweise den Putsch von 1921, der vom Militärkommandeur Reza Khan angeführt wurde. Dieser übernahm Ende 1925 als Schah die oberste Macht und läutete damit die Herrschaft der Pahlavi ein, die bis zur Islamischen Revolution 1979 dauern sollte.[ 145 ]
Im Vergleich zum Osmanischen Reich war Iran eine arme und rückständige Region, auch wenn iranische Intellektuelle daran erinnerten, dass ihre Reiche einst auf Augenhöhe gegeneinander gekämpft hatten. Der osmanische Sultan Abdülhamid II. setzte die neue Verfassung von Ende 1876 recht bald wieder außer Kraft und löste das zu Beginn seiner Herrschaft eingerichtete Parlament auf. In den folgenden drei Jahrzehnten etablierte der Sultan ein repressives politisches Regime, wobei er gleichzeitig die Modernisierung von Wirtschaft und Militär sowie die Entwicklung der verschlafenen südlichen Provinzen des Reiches anstrebte. Istanbuls Reform ‹von oben› leistete jedoch zwei unvereinbaren ideologischen Programmen zum Erhalt eines Vielvölkerreichs Vorschub: einerseits dem Bemühen, die Eliten der arabischen Muslime zu umwerben, und andererseits den Versuchen, die türkische Nationalbewegung (Komitee für Einheit und Fortschritt oder Jungtürken) zu fördern, die vor allem angesichts des Einflusses von Griechen und Armeniern in Sorge war. Mit dem Schrumpfen der europäischen Gebiete (formelle Abtretung Rumäniens, Serbiens, Bosniens, Bulgariens und Mazedoniens 1856 und 1878) setzte der Sultan immer stärker auf eine Ideologie des Panislamismus. Der Schwachpunkt dabei waren die Finanzen: Die Versuche, in einer Zeit des weltwirtschaftlichen Abschwungs Steuern einzutreiben, hatten 1875 mit zum Aufstand in Bulgarien und dem desaströsen Krieg mit Russland
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